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Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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– versiegt mein Redestrom. Mutter liegt entspannt und mit geschlossenen Augen auf ihrem Podest, schläft jedoch nicht. Vielleicht schläft sie nie. Doch viele der Mädchen ringsum schlafen inzwischen tief und fest, und auch Kim döst in seinem mit Blättern gepolsterten Nest.
    Nach wie vor bin ich auf der Hut. In welcher Hinsicht unterscheide ich mich von den anderen Versionen meines Ich, die man ihr nahm – die starben? Oder auch von der lebenden Version, meinem Zwilling, der im Bug zurückgeblieben ist? Immerhin wurde ihm Loyalität von Anfang an eingeimpft. Er wurde schon mit dem Wissen geboren, dass er Mutters Befehle zu befolgen hat.

    Hat sie bereits ein Urteil über uns gefällt? Vielleicht ist sie sich noch nicht ganz sicher.
    Schließlich schlägt sie die Augen auf. »Ich begreife einfach nicht, von welchem Punkt an es falsch gelaufen ist«, erklärt sie mit ihrer sanften Stimme. »Ich habe das Schiff vor Augen und den Kampf, kenne diejenigen, die mich scheitern lassen wollen und meine Kinder umbringen. Wieder und wieder haben sie dafür gesorgt, dass du mir genommen wurdest …« Sie sieht mich so an, als müsste ich die Antworten kennen. »Warum bekämpfen sie uns?«, fragt sie, zieht in plötzlicher Selbsterkenntnis die Augenbrauen hoch und setzt nach: »Und wieso sehen wir jetzt so anders aus?«
    Meine Güte, ich muss wohl immer noch träumen.
    Ihre tiefblauen Augen sind genauso groß, wie ich sie in Erinnerung habe. Obwohl ich den Blick nicht von ihrem Gesicht abwende, ist mir ihr übriger Körper deutlich bewusst. Sowohl in der Form als auch in der Funktion dieser Frau liegt Schönheit. So viele Töchter, und alle beten sie an. Werden sie alle so sein wie ihre Mutter, wenn sie erwachsen sind?
    »Meine Töchter haben mir erzählt, dass es noch einen zweiten Lehrer gibt. Aber er ist nicht mitgekommen. Warum nicht?«
    »Wir wollten sicherstellen, dass die Reise reibungslos verläuft«, erwidere ich in der Hoffnung, dass sie mir glaubt.
    Sie wendet das Gesicht ab. »Um diesen Gelben hier und um die anderen haben meine Töchter nicht gebeten. Nur um dich.«

    »Wir sind Reisegefährten und haben gemeinsam gekämpft«, erkläre ich. »Die Mädchen haben die ganze Gruppe zu diesem Schiffskörper gebracht.«
    »Nicht alle«, ruft sie mir ins Gedächtnis. »Viele sind unterwegs gestorben. Du hast dir Zugang zu den Aufzeichnungen des Klados verschafft, genau wie ich gehofft habe. Und trotzdem bist du niedergedrückt. Was hast du darin entdeckt? Was deprimiert dich so?«
    »Die Aufzeichnungen lösen Erinnerungen in mir aus, die mir keineswegs gefallen. Das hier ist nicht das Schiff, das ich kenne. Nicht das Schiff, das diese Version von mir kennt.«
    »Du irrst dich, es ist das Schiff, das du kennst.« Sie mustert mich mit halb geschlossenen Augen. Ihr Blick wirkt durchtrieben, vieldeutig, wird gespeist von den gewaltigen Hormonströmen, die mich nicht betäuben, sondern mit aller Kraft zu einem bestimmten Ziel lenken wollen. Als sie mir über das Gesicht streicht, verstärkt sich ihr Duft. Die schützende Laube hat uns einander nähergebracht. »Wir tun doch nichts anderes, als die Erde zu schützen. Und die Erde kennst du doch!«
    »Ja.« Ich bin wie berauscht von ihr. Und berauscht von der Erde. Für den Augenblick kann ich vergessen, dass ich die Dinge, an die ich mich erinnere, in Wirklichkeit nie erlebt habe. Dass all diese Erinnerungen nur Täuschungen sind.
    Mutter ist mein Spiegel. Wenn ich sie ansehe, fällt mir so vieles wieder ein.

     
    Goldene Strahlen über einer kleinen Lichtung. Nach einer langen Wanderung ruhe ich mich aus und hocke mich, umgeben von dunkelgrünem Wald, auf einen umgestürzten Baumstamm. Der Schnee dämpft alle Geräusche. Und jede herunterrieselnde Schneeflocke strahlt im diffusen Licht des winterlichen Sonnenuntergangs zartgelb auf. Vom Rand der Lichtung aus beobachtet mich ein graziles braunes Tier mit langem Hals und springt schließlich davon. Ein Reh. Mir ist bewusst, dass auch andere Tierarten diesen dunklen Wald bevölkern: Bären, Eichhörnchen und im nahen Fluss Fische in allen Regenbogenfarben, die sich in dem schnell dahinströmenden eiskalten Wasser tummeln.
    Ich habe meine Freundin bei einer Exkursion begleitet, jetzt ist die Feldforschung so gut wie abgeschlossen. Außerdem ist diese Studie eher ein Abschiedsritual als wissenschaftlich unbedingt notwendig. Alle Kenntnisse werden wir mitnehmen. Bei unserem Flug zu den Sternen wird die Aufgabe meiner Freundin

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