Das Schiff - Roman
Aufzeichnung von ihr aufbewahrt haben.«
»Wer blickt bei diesem Schiff schon durch? Wir haben noch längst nicht alle Systeme und Bedienelemente im Griff.«
»Jedenfalls muss es eine entsetzliche Zeit gewesen sein.«
Ich frage mich, ob es ein Fehler war, sie zehn der Notizbücher lesen zu lassen – zehn von insgesamt elf, die sich alle in einem zerschlissenen grauen Sack befanden. Weitere Notizbücher oder Säcke konnten wir nicht finden. Die Untersuchungsbeauftragten, die diese Notizbücher entdeckt haben, können die Schrift nicht lesen, doch aus mir unbekannten Gründen habe ich damit keine Mühe, genauso wenig wie meine Gefährtin. Auf dem Schiff werden alle möglichen Sprachen gesprochen. Die Notizbücher sind in umgangssprachlichem Englisch geschrieben, und die Aufzeichnungen sind deutlich von den kulturellen Werten und Normen des 21. Jahrhunderts geprägt. Meine Muttersprache und die meiner Gefährtin ist Panchinesisch, das möglicherweise auch der Knochenkammmann namens Tomchin gesprochen hat. Mittlerweile wissen wir, dass das Schiff sowohl Menschen mit solchen körperlichen Besonderheiten schaffen kann als auch die Monster, die sogenannten Elemente …
Leider gibt es keine Möglichkeit, irgendetwas über das Aussehen des Verfassers oder der Verfasser dieser Notizbücher in Erfahrung zu bringen. Wir können nur vermuten, dass er Ähnlichkeit mit mir hatte, aber mit Sicherheit können wir es nicht sagen.
Innerlich weiß ich es jedoch mit Bestimmtheit. Es
hat etwas damit zu tun, wie er denkt und welche Worte er wählt, denn das schimmert trotz der für mich ungewöhnlichen Buchstabenfolgen durch.
Meiner Gefährtin gefällt ihr »Gegenstück« allerdings weniger.
»Man kann kaum glauben, dass sie jemals existiert hat«, erklärt sie. »Hast du jemanden wie sie im Katalog finden können?«
»Nein«, erwidere ich, obwohl das nicht ganz stimmt. Ich habe gewisse Instrumente zur Bereinigung und Optimierung der Rechnersysteme eingesetzt, um Teile des Katalogs, die noch nicht vollständig gelöscht waren, wiederherzustellen. Und sogar dazu, das gesamte theoretische Potenzial des ursprünglichen Klados, zu dem unser Schiff gegenwärtig nur ansatzweise Zugang hat, besser einschätzen zu können.
Früher einmal hatte unser Schiff viel größeres Potenzial, folglich ist es durchaus vorstellbar, dass so etwas wie die »Mutter« existiert hat. Bestens ausgestattet wurden wir zu den Sternen entsandt. Wäre es dabei geblieben, wären wir meiner Meinung nach mit Sicherheit ums Leben gekommen. Entweder hätte das Schiff sich selbst vernichtet, oder es wäre ausgelöscht worden.
Ich habe meine Entscheidung inzwischen getroffen. Zwar kann ich meiner Gefährtin vertrauen, doch in Anbetracht ihres Abscheus, ihres Verlustgefühls und ihrer Enttäuschung ist mir klargeworden, wie ich mit dem letzten Notizbuch verfahren muss. Schließlich bin ich verantwortlich für die kulturelle Erziehung und Moral
der Siedler und damit letztlich auch für Erfolg oder Misserfolg unserer langen, schwierigen Reise. Es ist schon schockierend genug, die ersten zehn der geborgenen Notizbücher zu lesen und dabei nach und nach zu begreifen, dass all unsere Lebensgeschichten, all unsere Erinnerungen künstlich produziert worden sind. Doch noch schockierender ist es, sich die amoralischen Machenschaften der Lebensdesigner dieses Schiffes vor Augen zu halten – deren verzweifelten Versuch, die Reise um jeden Preis und gegen alle Widerstände zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, unabhängig von den Folgen für andere Welten und andere Leben.
Das ist das Böse in unverhüllter Form.
Ja, und trotzdem wäre es uns vielleicht zugutegekommen … Irgendetwas gärt immer noch in mir. Etwas Falsches, Perverses. Etwas, das mich anzieht.
Das letzte Notizbuch – das elfte – habe ich meiner Gefährtin vorenthalten. Selbst jetzt noch bricht mir der kalte Schweiß aus, wenn ich nur daran denke … Und trotzdem bin ich froh darüber. Irgendwann, Jahrhunderte in der Zukunft, wird die ganze Geschichte offenbar werden und uns alle, die wir so jung, optimistisch und stark sind, in der Seele erschüttern.
Doch erst dann.
In der Zwischenzeit lockt uns die neue Welt – die viel schöner ist, als wir uns je träumen ließen.
Ich habe das elfte Notizbuch wieder im Sack verstaut und den Sack zu einem für die Allgemeinheit nicht zugänglichen Lager gebracht. Dort liegt er jetzt hinter Schloss und Riegel. Auf diese Weise habe ich sichergestellt,
dass das
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