Das Schiff - Roman
stimmt’s?«
Nell nickt und deutet dann auf mich. »Der hier ist in Ordnung. Glaube ich jedenfalls.«
»Tja, er hat sich dort gut gehalten.« Kim streckt die zweite Pranke vor, legt sie auf die andere Wange meines Zwillings, nimmt dessen Gesicht in den Schraubstock und dreht es ruckartig herum. Es knackt, als zerbräche ein Stock. Gleich darauf schwebt mein Bruder leblos in der Luft.
Auch durch meinen Körper ist ein heftiger Ruck gegangen. Ich schiebe mich von der Gruppe weg.
»Wir müssen fort«, drängt Kim. »Zurück zu den anderen Schiffskörpern oder sonst wohin. Nur nicht hierbleiben! Ich glaube, nicht mal Tsinoy kommt gegen das an, was uns erwartet.«
Tsinoy wiegt den leblosen Körper in ihren Armen und macht dabei seltsame kleine Geräusche. Schließlich zieht sie ihre Pfoten zurück und lässt ihn los. Ohne jede Hast und mit weit geöffneten Augen gleitet er davon, während der Kopf auf und ab hüpft. Gleich darauf sinkt er in einer weiten Kurve zu Boden.
Tomchin blickt sich um, streckt die Arme aus und deutet auf die Transferkapsel.
»Wir sollten erst noch Essen und Wasser besorgen«, meint Nell.
»Dafür ist keine Zeit.« Kim packt uns bereits und schiebt uns vorwärts, auf die Transferkapsel zu. Er ist froh, den letzten funktionstüchtigen Schiffskörper hinter sich zu lassen – den letzten Ort, an dem wir mit Essen und Kleidung versorgt wurden.
Niemand erhebt Einwände. Eine weitere Runde geht an Mutter.
Hinter dem Bereitstellungsbereich, in der zeltförmigen Kammer, hören wir leise, schreckliche Geräusche; es klingt nach Geflüster oder nach Schlangen, die durch Gras gleiten. Tsinoy verlagert die Muskeln, stockt deren Masse auf und verankert die Klauen fest auf dem Deck, das zwischen uns und den Geräuschen liegt.
Derweil schieben wir uns auf die Einstiegsluke der Transferkapsel im Bereitstellungsraum zu. Als ich einen Blick zurück werfe, sehe ich, dass sich etwas über das Deck bewegt und daran haften bleibt. Es ist so durchsichtig wie Wasser, weist jedoch hier und da zuckende glänzende Haarbüschel auf und ist mit rubinroten Knopfaugen ausgestattet.
Als dieses Monster seine Flüssigkeit über Tsinoys Pfoten ergießt, steigt Rauch auf, und Tsinoy fängt an zu bluten. Es sind dicke rote Tropfen. Die ätzende Flüssigkeit ist so scharf wie ein Rasiermesser. Wimmernd fegt Tsinoy sie mit den harten Elfenbeinklauen weg, während Kim unseren Spürhund an den ausgestreckten Gliedern packt und zu uns herüberzerrt.
Kurz fällt mein Blick auf etwas, das wie eine Schar von Cherubinen aussieht: Winzige Engel schweben über der Flüssigkeit, die sich immer weiter ausbreitet, hüpfen und klettern in der Kammer herum und schieben einander vorwärts. Mutters Vorhut.
Die Flüssigkeit ist bereits bis zum Rand der Einstiegsluke vorgedrungen, als Nell endlich den Befehl gibt, die Klappe zu schließen. Wir legen vom Schiffskörper 03 ab, haben endgültig genug von den Monstern, Müttern, Töchtern, Träumen, Lügen und unbegreiflichen Kriegen. Und können nur hoffen, dass die Kugel auf dem kleinen Mond – die Unterkunft der Reiseleitung – uns auf irgendeine Weise Zuflucht bieten kann.
Falls nicht, bleibt uns nur der dunkle Raum und der tödliche Schutt zwischen den Sternen.
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IM SCHIFFSARCHIV GESPEICHERT UNTER
„ARCHÄOLOGISCHER BERICHT"
Persönlicher Nachtrag der Untersuchungsbeauftragten
E rwar du , nicht wahr?«, fragt meine Gefährtin. »Schließlich war auch er Lehrer.«
Sechzig Tage hat unsere Untersuchungsgruppe dazu gebraucht, das komplette Schiff, das aus drei miteinander verbundenen Schiffskörpern besteht, mit all seinen Schlupfwinkeln durchzukämmen und die spärlichen Reste fremdartiger Lebensformen aufzustöbern. Die ganze Zeit über haben meine Gefährtin und unsere sieben Gruppenmitglieder die unterschiedlichsten Aufgaben übernommen: Unter anderem haben wir die Bereitstellungsbereiche auf Vordermann gebracht und sowohl die Wartungsmannschaft des Schiffs als auch die Mannschaft, die als Erste auf dem neuen Planeten landen wird, gründlich geschult.
»Aber …« Meine Gefährtin weiß nicht recht, wie sie ihre Frage formulieren soll. »War sie auch ich ?«
»Wer?«
»Du weißt genau, wen ich meine.«
»Keine Ahnung«, erwidere ich. »Es gibt ja keine Bilder von ihr. Keine Anhaltspunkte.«
»Das Schiff könnte doch eine
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