Das Schiff - Roman
Tsinoy hat uns genau beobachtet und unsere Gerüche verfolgt. »Mutter hat ihn zurückgewiesen«, sagt sie zu Nell und streckt ein Glied in meine Richtung. »Sie wollte ihn in den Tod schicken. Ich habe ihn mitten durch die Todestanks hierhergebracht, so wie du vorgeschlagen hast.«
Unendlich müde mustert mich Nell mit zusammengekniffenen Augen. Ihr ist diese Verantwortung, diese Entscheidungsmacht zuwider.
»Er hat dabei wütend gerochen«, setzt Tsinoy nach. Gleich darauf verändert sich ihre Schnauze so, dass die vorher glänzende Plattierung poröser wird. »Und der andere ist brünstig «, erklärt sie, während sie an meinem Zwillingsbruder schnüffelt.
Er riecht tatsächlich ein bisschen so, als wäre er geil.
Mein Doppelgänger versucht sich vom Boden abzustoßen und zu fliehen, doch Tsinoy fängt ihn ab und hält ihn fest, ohne ihm wehzutun.
»Du hast kein Gewissen«, sagt sie mit heiserer Stimme.
DRITTER TEIL
Die Welt
M ein Zwilling, der vor Erregung stottert, behauptet, er sei genauso unschuldig wie ich. Die ganze Zeit schon hätten wir falsche Entscheidungen getroffen, und wir dürften auf keinen Fall irgendetwas glauben, das die Reiseleitung sagt. Er ist in Panik geraten und spricht mit scharfer Stimme. Irgendwie tut er mir leid – und ich selbst mir auch. Er macht beiden von uns alles kaputt. »Vielleicht hat die Reiseleitung euch allen in der Traumzeit Wahnvorstellungen eingegeben, hat das alles einfach erfunden«, ist sein letztes schwaches Argument.
»Du hast schon immer seltsam gerochen«, knurrt Tsinoy. Ihr Knurren klingt wie ferner Donner; mir stellen sich dabei sämtliche Härchen auf. Sprachliche Modulation zählt nicht gerade zu ihren Stärken.
»Wie zum Teufel willst du überhaupt wissen, was brünstig ist?«, schreit mein Bruder sie an, während er sich in ihrem Griff windet. Sein Gesicht läuft rot an. »Du hast doch gar kein Geschlecht, bist ein Neutrum!«
»Nur mein Körper«, erwidert Tsinoy.
Er wendet das Gesicht mir zu. »Wenn du zulässt, dass man deinen Zwillingsbruder tötet, wirst du der Nächste sein!«
»Niemand hat gesagt, dass wir dich töten wollen«, erklärt Nell und schafft es, so auszusehen, als lehnte sie sich entspannt nach hinten. Eine Ferse hat sie unter einer Stange verhakt und den Kopf in eine Hand gestützt, während der Ellbogen frei in der Luft schwebt. Mit ihrer geschmeidigen Körperhaltung scheint sie nur noch aus langen Gliedern zu bestehen. Als Nell meinen Blick auffängt, liegt eine Warnung in ihren Augen. »Ihr seid beide vorbelastet«, bemerkt sie. »Mutter hat mit euren Emotionen gespielt und sie ausgenutzt. «
»Und wer war deine Mutter?«, brüllt mein Zwilling.
»Ich glaube, meine Prägung geht nicht so tief wie eure«, erwidert Nell. »Ich kann mich weder an eine Kindheit noch an eine Mutter oder eine Familie erinnern. «
Plötzlich verzerrt sich das Gesicht meines Zwillings, und er bricht in Tränen aus. »Lasst mich zu ihr gehen«, bettelt er. »Ich gehöre zu ihr.«
»Der Falsche ist nach achtern gegangen.« Nell stülpt die Lippen vor. Sie und Tsinoy haben den Blick den Fenstern zugewandt, als sehnten sie sich nach der Unberührtheit riesiger Räume und Sonnen – nach allem, was jenseits dieses Schiffes liegt. Als sehnten sie sich nach der Befreiung aus ewigen Wiederholungen, nach der Befreiung von schwerwiegenden Entscheidungen, von den Gedanken an verlorene Zukunftsperspektiven. Aber die Fenster werden immer noch repariert, sind von Nebel beschlagen und dunkel.
Ich fühle mich völlig kraftlos.
Auf einmal hören wir hinter uns ein Geräusch, und ein dunkelbrauner Schatten bewegt sich durch die Dunkelheit ins Licht des Bugs.
»Kim!«, ruft Nell. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! «
»War nicht nötig. Ich habe ein wenig aufgeräumt und konnte denen entkommen. Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden ernsthaft verletzt habe. Aber ihr habt sie wirklich in Wut gebracht, Leute. Jetzt holt Mutter zum Gegenschlag aus.«
»Und wann wird es losgehen?«, fragt Nell mit tödlicher Ruhe.
»Vielleicht schon in Minuten. Nachdem ich mich befreit hatte, bin ich an einem Dutzend Dschungelkugeln vorbeigekommen, und in allen wuchsen jede Menge Monster heran, große und kleine. Schlimmer als alles, was ich bis jetzt gesehen habe.«
Kim gesellt sich zu Tsinoy, der immer noch meinen Zwilling umklammert, streckt seine Pranke aus und streicht meinem Bruder mit einem Finger über die Wange. »Er ist derjenige, den Mutter haben wollte,
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