Das Schiff - Roman
die uns durch das Laubwerk hindurch anstarren. Ich rechne schon damit, dass wir gleich ein weibliches Wesen entdecken werden, das Mutter ähnelt. Ist das hier eine weitere Falle, in der wir Killern zum Fraß vorgeworfen werden sollen?
Aber die Augen blinzeln nur und ziehen sich zurück. Zugleich wird es heller, und ein blaues Leuchten, das mich an den Himmel der Erde erinnert, durchflutet die Lichtung mit dem Baumhaus . Jedenfalls kommt mir dieses Gebilde tief im Inneren eines Dschungels so vor.
Zugleich tut sich etwas im Vorhof, in dem man möglicherweise Gäste begrüßt, willkommen heißt oder auch gefangen nimmt: Ein wabernder silberner Lichtstrahl huscht so schnell durch die Äste, dass ich ihn kaum verfolgen kann – so, als gelte für ihn ein anderes Zeitmaß als für mich. Mir ist so, als beobachtete ich ein Gespenst, das die Substanz des Himmels mit der von Chrom in sich vereinigt, ein schimmerndes Wesen, das nur aus zarten Gliedern und Kurvenlinien besteht. Ein glasartiges Gespinst, geschmückt mit funkelnden Perlen, Aquamarinen und Smaragden, umfließt den geschmeidigen Körper wie ein Nebelschleier. Und über all dieser Pracht thront ein großer, schmaler Kopf, der in gewisser Hinsicht sogar menschenähnlich wirkt, denn er hat Augen, eine Nase und seitlich etwas, das Ohren sein könnten.
Diese Gestalt ist nicht Teil meiner Erinnerungen und auch nicht Teil des Schiffs, sondern etwas, das mit dem Klados nicht im Entferntesten zu tun hat.
Eine Silberfee .
»Die Reiseleitung heißt euch willkommen.«
Es ist nicht mehr die Erscheinung, die jetzt spricht. Diese Stimme gehört jemand anderem. Einen Moment lang sieht die Silberfee mich an, hebt einen Finger an die Lippen und lächelt. Es ist ein äußerst beängstigendes und zugleich wunderschönes Lächeln. Und mir fällt dabei auf, dass sie keine Zähne hat.
Gleich darauf lässt sie die Hand sinken und löst sich in Luft auf.
Diese Erscheinung war nur für mich bestimmt. Die anderen haben sie nicht gesehen. Allerdings fällt Nell
mein heftiges Zittern auf. »Komm schon«, sagt sie, »so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
Mir ist so übel, dass ich mich am liebsten übergeben würde, nur habe ich nichts mehr im Magen.
Als es in der Lichtung hell wird, können wir Einzelheiten ausmachen: Die Äste und Zweige sind hier so gestutzt, dass ein kleiner, teilweise von Milchglas eingefasster Innenraum entstanden ist. Schmale, miteinander verstrickte Kabel deuten darauf hin, dass dieser Bereich früher einmal als Hibernationsraum gedient haben mag. In zwei der Kapseln fallen uns dunkelbraune Gewänder auf, in denen, von der Kleidung fast verborgen, zwei Gestalten stecken. Sie sind fast schwarz, weisen hier und da jedoch grau-rosa Flecken auf und sind an manchen Stellen immer noch mit Raureif und Eis überzogen. Aber jetzt tauen sie rasch auf.
»Seid ihr hier, um die Reiseleitung abzulösen und zu ersetzen?«, will die Stimme von uns wissen.
Ich frage mich, wie diese verschrumpelten Körper noch irgendwelche Töne erzeugen können. Doch dann bemerke ich den scharfen Geruch, den sie beim Auftauen ausströmen, und mir wird klar, dass die Stimme aus keinem dieser erstarrten Hüllen gedrungen sein kann. Diese Menschen sind schon sehr lange tot.
»Ich habe mit dem Schiff kommuniziert«, erwidert Nell der Stimme. »Was wir als Ansprechpartner benötigen, ist das Schiff in seiner ursprünglichen Form – das Schiff, das uns aufgeweckt hat, das Schiff, das uns den Zugang zum Klados und dem Schiffsspeicher gezeigt
und erklärt hat. Von falschen Spielchen und irgendwelchen Zwischeninstanzen haben wir die Nase voll.«
»Für dieses Schiff kann ich nicht sprechen«, erklärt die Stimme. »Es muss eine Entscheidung fallen, aber ich bin nicht befugt, diese Entscheidung zu treffen. Man hat ein neues Reiseziel gefunden. Das Führungsteam wurde in den Kälteschlaf versetzt, wird aber bald wieder zum Leben erwachen.«
Kim mustert die Leichen, während Nell weiter hinten bei Tsinoy bleibt. Wir alle spüren die Gefahr. Wer hat unsere Geburt und unser Überleben vereiteln wollen? Wer hat Monster erzeugt, die uns töten sollten? Die Mutter, das Schiff oder diese Toten?
Ich würde auch die Silberfee in die Liste der Verdächtigen aufnehmen, könnte ich an ihre Existenz glauben. Doch ich weigere mich, sie für real zu halten. Sie ist nur eine Wahnvorstellung, dazu noch eine, die nur ich pflege. Sie gehört weder zum Schiff noch zu meiner Wirklichkeit, also kann man sie auch
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