Das Schiff - Roman
Eintönigkeit dieser Umgebung sicher irgendwann in den Wahnsinn treiben.
Wenn das so weitergeht, könnte ich eigentlich genauso gut ins gerade verlassene Domizil der schlauen Affen, ins Schlaraffenland , zurückkehren, wo einem die gebratenen Tauben beziehungsweise Nährriegel in den Mund fliegen.
Aus irgendeinem Grund muss ich bei diesem Gedanken grinsen. Ich habe einen witzigen Vergleich vorgenommen, ohne zu wissen, woher das Wort »Schlaraffenland«, abgeleitet von »schlauen Affen«, ursprünglich stammt. Soll ich es aufschreiben, um nach all diesen deprimierenden Texten auch mal etwas Lustiges zu notieren? Ich ziehe das kleine Buch mitsamt dem Bleistift heraus und blättere darin herum. Als ich mit dem Finger über die dicken schwarzen Striche fahre, wird mir plötzlich klar, was sie bedeuten: Sie markieren
die Übergänge von einem Schreiber zum anderen. Nach jedem Strich wechselt die Handschrift kaum merklich.
Ernüchtert klappe ich das Buch zu und verstaue es mitsamt dem Bleistift wieder in der Hosentasche. Mindestens vier Versionen von mir haben dieses Notizbuch mit sich herumgeschleppt. Falls es verlorengeht, ist es so, als hätten meine Vorgänger niemals gelebt.
Wie viele Menschen, deren Existenz, Erfahrungen und Erkenntnisse nirgendwo festgehalten wurden, sind als Tote in den Kühlvitrinen gelandet? Die anderen Versionen von mir, die dieses kleine Buch mit Notizen gefüllt haben, wussten wesentliche Dinge. Ich hoffe, dass ich zumindest so weit wie sie vorstoße. Irgendwann werde auch ich meine Erfahrungen und Erkenntnisse aufschreiben, aber es bringt nichts, wenn ich nur wiederhole, was bereits dokumentiert ist, deshalb … gibt es für mich nur ein Vorwärts, kein Zurück. Ich habe mir noch nicht das Recht erworben, irgendetwas zu diesen Texten hinzuzufügen.
Ich entscheide mich für den Schacht.
Da das wechselnde Auf und Ab auf diesem Schiff jede Bedeutung verloren hat, weise ich dem Wort Abstieg einen neuen Inhalt zu: Es bedeutet, dass ich weiter nach innen, auf die Mitte zu gehe. Hingegen heißt Aufstieg , auf die äußeren Schiffsregionen zuzuhalten.
Der »Abstieg« verläuft so ähnlich wie zuvor, nur habe ich ihn jetzt besser im Griff. Ich weiß zwar nicht, wie weit ich schon gekommen bin, aber jedenfalls nicht so weit, dass sich der Schacht merklich näher auf das Zentrum
zubewegt. Bis dahin mag noch eine Strecke von tausend oder zweitausend Metern vor mir liegen. Ich lasse mir die Maßstäbe durch den Kopf gehen, während ich weiter hinunterklettere. Zugleich halte ich Ausschau nach weiteren Skizzen, nach weiteren Spuren des Mädchens oder irgendeiner anderen Person, die es bis hierher geschafft hat (mal abgesehen von meinen Vorgängern). Wäre schon seltsam, wenn mich hier mein eigener Geist heimsuchen würde. Vage kann ich mich an unheimliche Erzählungen über wiederkehrende Tote erinnern – an Geister- und Gespenstergeschichten. Was wäre, wenn hier auf einen Schlag alle Versionen von mir auftauchen würden, wirres Zeug brabbelnd? Spukgeschichten. Es bringt nichts, weiter über solche Dinge nachzudenken. Offenbar gehören sie zu meinen künstlich induzierten Erinnerungen an irgendwelche kulturellen Überlieferungen.
Warum komme ich nicht an das Wissen heran, das ich wirklich benötige? Zum Beispiel an das dem Schiff zugrunde liegende Konstruktionsprinzip – warum hat es drei Schiffsrümpfe? Und wozu dient diese Kugel aus schmutzigem Eis, dieser Mond? Wer oder was bewohnt die anderen Schiffsrümpfe, wenn überhaupt jemand? Hat irgendein Mitglied der Reiseleitung überlebt? Wie lange ist das Schiff schon unterwegs? Wann ist es aufgebrochen und von wo?
Einige Antworten auf die vielen Fragen kann ich mir zwar mehr schlecht als recht zusammenreimen, aber plausibel ist das alles noch lange nicht. Klar scheint mir nur, dass das Schiff während der Reise Menschen erschaffen
und gewisse Dinge produziert hat – und es vermutlich immer noch tut. Und dass ich hier ein Neuling bin.
Die Schachtstrecke, die hinter mir liegt, verschwindet genau wie die Schachtstrecke vor mir irgendwo im Dunkeln. Ich muss noch viel tiefer hinab – Hunderte von Metern. Ich mache eine kurze Pause, um etwas zu trinken, verspüre aber noch keinen Hunger, da ich im Quartier des Jungen noch etwas gegessen habe. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, Essen von ihm geschnorrt zu haben. Mir tut die Frau leid, die in allen Dingen von diesem Jungen abhängt.
Was hat dieser Halbwüchsige getan (oder
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