Das Schlangenmaul
entgegenstellt. Seth, der Gott des Südens, erlegt sie und färbt mit ihrem Blut den Himmel. Das Abendrot ist das Blut einer Schlange …«
Allmählich machte sich Unruhe bemerkbar, keiner war mehr Zuhören gewohnt ohne bewegte Bilder, und die Sensation des Abends ließ schon eine Weile auf sich warten. Was war denn nun in diesem Korb auf der Bühne? Frau Dr. Frenkel-Ahimsa konnte das Scharren und Hüsteln nicht beirren, Hethiter, klingelte die Tempelglocke weiter, Illujanka der Schlangendämon, Babylonier, Gilgamesch, Schlangen überall. Scharren, Hüsteln, Flüstern, dann auch schon die unverhohlene Frage, wo der Sekt sei, und dann, wir hatten auch noch Korea und China gestreift, Sumatra und Japan, änderte das Licht seine Farbe, ging in ein helles Rosa über, Musik setzte ganz sachte ein, eine Flöte wisperte, eine Trommel begleitete sie wie ein nervöses Herzklopfen, unser Herzklopfen. Dann der Gong. Und die Stimme von Frau Dr. Frenkel-Ahimsa, hart diesmal, nicht silbrig, sondern metallen.
»Ich kann Ihre Unruhe verstehen, meine Damen und Herren. Was bedeuten noch die alten Mythen des Menschen, wenn wir uns in Sekundenschnelle die täglichen Sensationen des Erdballs ins Wohnzimmer holen können, wenn wir – wie Statistiker ausgerechnet haben – tagtäglich von 2800 Eingriffen ins zentrale Nervensystem, Ton-, Bild-, Schriftsignalen verstümmelt werden. Wir sind allein mit ihnen. Die Tiere, die wir halten, sollen unsere Abbilder sein, nicht mehr die der Götter, vor denen wir allen Grund hätten, uns zu fürchten. Deshalb ist es gut, dieser uralten Furcht ins Auge zu sehen. Deshalb ist es gut, der Schlange ins Auge zu sehen.«
Das rosa Licht schwenkte von der Frau im Sari zu der Stelle auf der Bühne, wo der Korb stand. Dahinter saß jetzt ein Mädchen, eine fernöstliche Maske vor dem Gesicht, weiße Wangen, knallroter Mund, dunkle Haare über einem Schleier, der ahnen ließ, daß sie darunter nackt war.
Ich nahm meine dunkle Brille ab.
Das Mädchen hob den Korbdeckel hoch, legte ihn zur Seite. Und langsam stieg aus dem Korb der schillernde Körper einer Schlange.
Die Schlange ragte starr aus dem Korb, mindestens einen Meter hoch aufgerichtet, und das Mädchen mit der Maske fing an, mit seinem Körper den Rhythmus der Musik aufzunehmen, in spiralenartigen Bewegungen, die die Schlange nachmachte. Totenstille im Publikum.
»Der Glaube des Christentums verflucht die Schlange«, sagte Frau Dr. Frenkel-Ahimsa mit ihrer metallischen Stimme, »kriechen sollst du im Staub«, die Musik setzte einen Augenblick aus, die Tänzerin sackte in sich zusammen, die Schlange sank in den Korb zurück, dann setzte die Trommel wieder ein, dann die Flöte, und langsam kam der rosa Schleier wieder in Bewegung, und mit ihm die Schlange, »die Offenbarung der Apokalypse stellt die Schlange, die alte Schlange, den Teufel, als Antipoden des Messias dar, ›und die Engel der Schlange wurden mit ihm geworfen auf die Erde‹, aber, meine Damen und Herren, denken wir an die Azteken, deren Gott Quetzalcoatl als gefiederte Schlange in den Regenwolken über der Erde schwebte und Fruchtbarkeit brachte«, der Schleier schien zu schweben, die Maske darüber auch, und die Schlange wartete ab, »und denken wir an Indien«, die Musik wurde schneller und lauter, der rosa Schleier und die Schlange glitten aufeinander zu, »denken wir an die Legende, die berichtet, wie Buddha, den sie Gautama, den Erleuchteten nannten, in glühender Sonne über das ausgedörrte Land geht«, die Flöte erzählte von der Sonne, die Trommel war der Rhythmus, den Buddhas Füße auf das ausgedörrte Land klopften, »und sich, vom Wandern müde, in die heiße, alles versengende Sonne legt«, die Tänzerin war Buddha, der sich in die Sonne legt, sie neigte ihren Körper weit nach hinten, legte den Kopf auf ihre Hände, »eine Kobra schlängelt sich des Weges«, die Schlange beugte sich über den rosa Leib der Tänzerin, jemand in der Reihe vor mir hielt scharf den Atem an, »der schlafende Buddha bedauert sie, und sie breitet ihren Schild aus und spendet ihm Schatten«, die Musik hatte jetzt einen harten, genauen Beat, die Tänzerin machte eine Bewegung, und die Schlange, hoch über ihr, fuhr ihren Schild aus, der bläulich glitzerte, »und seitdem ist die Kobra ein heiliges Tier«, zentimeterweise hob die Tänzerin ihren Körper, der rosa Schleier rollte sich aus, die Schlange wich zentimeterweise vor ihm zurück, aber die Tänzerin kam ihr immer näher, und dann war
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