Das Schlangenmaul
-Ahimsa, die – wenn ich das jetzt richtig habe, ja, ich habe es richtig – über ›Schlangen im kollektiven Mythos‹ sprechen wird. Und ich sage noch mal: Stichwort Genesis, Stichwort Genetik – Berlin muß das transparent machen. Berlin packt es. Ich danke Ihnen.«
Applaus, Sekt, schon ging eine Spendenliste herum, der Wahlkampf warf seine Schatten. Und Evelyn schien ganz verzückt. Von wegen mandschurische Volksrepublik. Dann ging langsam das Licht aus.
21
Ein Gong. Bewegung hinter dem Samtvorhang, dann wurde er zur Seite gezogen. Unter einem Rundbogen eine Bühne, auf der eine Palme stand, grünlich fluoreszierendes Licht, und in der Mitte der Bühne ein geflochtener Korb. Raunen im Publikum. Noch ein Gong, und dann eine Gestalt auf der Bühne, eine kräftig gebaute Frau in einem bestickten goldfarbenen Sari. Derbes Gesicht, eingerahmt von blauschwarzen Haaren, um den Hals eine schwere silberne Kette, das Tiersymbol, das daran befestigt war, hatte ich schon in Lübars gesehen, eine Schlange, aus deren Maul etwas ragte, was fraßen Schlangen denn? Vegetarier waren sie jedenfalls nicht.
Ich hatte noch einen Platz in der letzten Stuhlreihe gefunden. Evelyn saß ein paar Plätze weiter. Jemand hustete ausdauernd, aber Frau Dr. Gesine Frenkel-Ahimsa ließ sich davon nicht beirren. Ihre Stimme war überraschend hoch und hell für ihre wuchtige Gestalt.
»Der Mensch teilt mit anderen ein gemeinsames Schicksal«, erzählte die Stimme, »aber er führt sein Schicksal immer auf sich selbst zurück. Der Mensch ist das Tier, das eine Geschichte hat, aber mit seinem Tod spricht er sich frei von der Geschichte. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das im Bewußtsein seiner Einzigartigkeit die Bande mit der Gemeinschaft zerschneidet. Der Mensch braucht den Mythos, den Mythos, der die Ganzheit wiederherstellt, wie den Mythos, der seine Einzigartigkeit bestätigt. Doch macht nicht der Mensch den Mythos, der Mythos macht den Menschen. Nur in der Welt des alten Indien ist der Mensch selbst ein Mythos …«
Ich wußte, daß mir hier nichts passieren konnte. Mr. Horror, die Warnungen Smetanas, die verräterische Betsy Glück, alles normal, Verrückte, die nur einen Mythos brauchten, Berlin, wir leben. Ich brauchte nur zu warten, warten hatte ich gelernt. Mit so einem Käse, dachte ich, wirst du im Halbschlaf fertig, irgendwann stecken sie doch ihre Palmen wieder weg, ihre Schlangen, ihre Mythen, dann ist es Zeit für die klare Aussage, dann bist du am Zug. Eine richtig schöne Serie, ich sah sie schon vor mir: ›Die Berliner Verarsche‹. Aber vorher mußte ich das Mädchen finden.
»Die Schlange«, erzählte Frau Dr. Frenkel-Ahimsa, und ihre Stimme klang so hell wie ein Tempelglöckchen, »die Schlange erinnert wie kein anderes Tier den Menschen an seine Herkunft. Die Schlange erinnert ihn an den Bauch der Erde. Der Mythos der Schlange ist älter als der des Menschen. Millionen Jahre älter. In den alten Religionen des Orients, als der Mensch sich selbst noch näher war, war er auch den Tieren näher, ihren Geheimnissen, ihren Wandlungen, ihren Mythen. Durch die Tiere sprachen die Götter mit den Menschen, die Gezeiten, die Gestirne, die Mythen …«
Gute alte Menschheit, dachte ich, aus Macken mach Mäuse. Evelyn schrieb in Gedanken sicher schon ihren Riemen, Berliner Notizen, den Galeriebummel hatte sie hinter sich, das Interview mit dem Künstler der Saison, die Modenschau, jetzt gab es als Dreingabe noch eine Soiree, physio-soziale Therapie, vielleicht lag da ein Trend, mit Schlangen, das kitzelte, am Ende hatte Berlin doch immer wieder etwas zu bieten, KKK. Und wenn sie sich am Wochenende mit ihren Kolleginnen beim Italiener traf, hatte sie auch was zum Erzählen. Also Harder, wißt ihr, was der wieder macht! In einem bestimmten Alter klinken manche Männer komplett aus. Wenn du wüßtest, wie ich mich einklinke, Evelyn.
»Ägypten«, erzählte das Tempelglöckchen, »der Kult steht im Zenit der Ordnung, im Norden Horus, im Süden Seth, alle Formen der Natur sind göttliche Inkarnationen. Krokodilopolis in Arsinoe, Hermopolis, Stadt des ibisgestalteten Mondgottes Thot, ja sogar der Mistkäfer, der Skarabäus, wird als Inkarnation des Sonnengottes verehrt. In Unterägypten herrscht Uto, die Schlangengöttin, die mit Geierbalg und der Naja haje dargestellt wird, der Uräusschlange, der ägyptischen Kobra. Dagegen Apophis, die mythische Riesenschlange, Verkörperung der Sonnenfinsternis, die sich am Abend der Sonne
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