Das Schlangenmaul
Windradenergie oder einen Ausweg aus der Krise des post-psychologischen Bewußtseins. Mittleres Management, Handel und Verkehr, Geld und Kredit, auch auf Staatsschutz tippte ich. Aber wo war der in Berlin nicht dabei?
Dann wehte eine Gruppe von Indern in den Saal, und mit ihr bekam auch die gedämpfte Musik einen Sinn – Sari, Moschus, Brillantine, you must come see us in Bombay, und dazu die herzerweichende Klage aus den Lautsprecherboxen: Vishnu Food und Magic Air & Transport. Inzwischen hatte Evelyn sich die Bilder angesehen.
»Retardierte Schizophrenie«, sagte sie.
»Woran merkst du das?«
»Ich bitte dich, Harder. Hast du nie von der Kunst der Schizophrenen gehört?«
»Ich dachte, alle Künstler wären schizophren.«
»Und du warst mal mit mir verheiratet. Die Frage ist nur – ist Zernul echt oder ein Nachahmer?«
»Wer ist denn Zernul?«
»Der Künstler natürlich, Dummerchen. Da vorne neben der Schlingpflanze.«
Zernul war ein junger Mann mit rasiertem Schädel, der speckig glänzte, einem schütteren blonden Bart, einem von der Trunksucht und schlecht verheilter Akne verwüsteten Gesicht und langen, affenartigen Armen. Er war von untersetzter Statur und trug eine mit Sprayfarben verschmierte alte Lederjacke, einen dreckigen Pullover, verschlissene Kordhosen und Armeestiefel, wie sie bei den Skinheads vorgeschrieben waren. Abgesehen von seinen zarten und glänzend geschrubbten Patschhändchen war er der unappetitlichste Misthaufen, den ich seit langem gesehen hatte, bis er seinen verschorften Mund zu einem Lächeln verzog – es war das Lächeln eines Engels, der unter die Teufel geraten ist und das dem lieben Gott nie verzeihen wird. Ich merkte, wie Evelyn auf ihn ansprang. Wenn man Zernul als echt deklarierte, dann war er womöglich der Stoff, aus dem die großen Farbstrecken sind. Für mich waren seine Bilder nur bonbonfarbene Schlangenlinien – aber ich war schließlich auch kein Kunstredakteur.
»Was sollen die Bilder denn darstellen, Evelyn?«
»Aber Harder – Schlangen natürlich.«
»Dann hab ich gleich deinen Aufmacher: Zernul – der Affe, der Schlangen bändigt.«
Evelyn schien das nicht zu gefallen. Sie steuerte den Künstler und seine Kamarilla an, und ich nahm mir noch mal die Empfangsdame beiseite.
»Ist Herr Malzan schon eingetroffen?«
»Nur Geduld, Herr Harder. Wenn Herr Malzan Sie zu sprechen wünscht, wird er es Sie rechtzeitig wissen lassen.«
Ein scharfer Blick ihrer schlauen Augen, dem ich hinter meiner dunklen Brille lächelnd standhielt.
»Sie sind also doch nicht nur des Spirituellen wegen hier«, sagte sie dann, als ob sie es ja gleich geahnt hätte.
»Wissen Sie, heute kann man das doch gar nicht mehr trennen. Sie als Institut haben ja auch schon eine Galerie hier …«
»Oh, eine Galerie kann man das nicht nennen. Die Arbeiten, die wir hier zeigen, entspringen ja der Arbeit im Institut.«
»Worum handelt es sich bei der physio-sozialen Therapie?«
»Das kann Ihnen Frau Dr. Frenkel-Ahimsa bestimmt besser erklären.«
»Sie leitet das Institut?«
»In gewisser Weise.«
»Da gibt es dann bestimmt Kurse, an denen man teilnehmen kann.«
»Wir sind keine Volkshochschule, Herr Harder. Kurse würde ich das nicht nennen.«
»Aber die ›Farm für Freie Entfaltung‹ steht nur den Fortgeschrittenen offen?«
»Wir unterscheiden unsere Mitglieder nicht nach den Leistungen, die sie erbringen.«
»Also muß man bei Ihnen Mitglied werden?«
»So, wie man auch Mitglied der menschlichen Gemeinschaft erst werden muß, Herr Harder. Von Natur aus sind wir nichts als in Blut und Kot Geborene.«
»Aber wie wird man bei Ihnen Mitglied? Durch Beitragszahlungen? Durch Beten?«
»Wir sind ein Institut«, sagte die freundliche Dame in der Tunika, »wir heilen Menschen. Wir handeln nicht mit ihnen, und wir unterwerfen sie nicht.«
Und damit ließ sie mich stehen. Ein junges, blond gelocktes Mädchen in einem weißen Kleid reichte Sekt und Säfte herum. Für ein Institut wußten sie genau, wie man so etwas macht, und die Leute, die noch dazukamen, verbreiteten einen sanften Duft nach diskretem Geld. Und Evelyn mittendrin, in ihrem Element. Kunst als Therapie … schizophrene Dichtung … wie mir erst letzte Woche in Wien klar wurde … der Mythos der Baubo … lachende Vulvas … chinesische Tafelmalereien, auf denen eine Kobra das männliche Sexualorgan … ach wirklich? Und du dumme Gans, dachte ich und nahm mir noch ein Glas Orangensaft, willst mich nach Hamburg holen,
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