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Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Titel: Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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konnte weder das eine noch das andere. Sie alle verstanden sich auf Dinge, die mir verwehrt waren. Die Mädchen sahen so gut aus, die Jungs so stattlich. Ich hätte viel zu große Angst gehabt, eines der Mädchen überhaupt nur anzusehen, geschweige denn, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen. So einer in die Augen zu sehen oder mit ihr zu tanzen, wäre mir nie möglich gewesen.
    Und dennoch wusste ich, dass das, was ich hier sah, nicht so einfach und gut war, wie es schien. Es musste ein Preis für all das gezahlt werden: Eine allgemeine Selbsttäuschung, der man leicht zum Opfer fiel und die der erste Schritt in eine Sackgasse sein konnte.
    Die Band spielte weiter, die Paare begannen wieder zu tanzen, abwechselnd gestreift von kreisenden Scheinwerfern in Gold, Rot, Blau und Grün. Und während ich ihnen zusah, sagte ich mir: Eines Tages wird mein Tanz anfangen, und wenn dieser Tag kommt, werde ich etwas haben, was die da nicht haben …
    Doch dann wurde mir ihr Anblick zuviel. Ich hasste sie. Ich hasste ihre Schönheit, ihre sorglose Jugend. Ich besah sie mir, wie sie durch die magischen Lichtornamente glitten, einander hielten, sich gut fühlten wie kleine unbeschwerte Kinder, die eine vorübergehende Glückssträhne auskosten, und ich hasste sie, weil sie mir etwas voraus hatten. Und wieder sagte ich mir: Eines Tages werde ich so glücklich sein wie ihr. Ihr werdet schon sehen. Sie drehten sich weiter im Takt, und ich wiederholte es noch einmal halblaut. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch. »Hey! Was hast du da zu suchen?«
    Es war ein alter Mann mit einer Stablampe. Er hatte einen Kopf wie ein Frosch. »Ich seh mir den Ball an.«
    Er hielt sich die Stablampe direkt unter die Nase. Seine Augen waren groß und rund und glitzerten wie die einer Katze im Mondschein. Sein Mund war faltig und leicht einwärts gestülpt, und sein merkwürdig kreisrunder Schädel erinnerte an einen Kürbis, der versucht, den gelehrten Eierkopf zu mimen. »Sieh zu, dass du hier verschwindest!« Der Lichtkegel seiner Stablampe strich an mir auf und nieder. »Wer sind Sie?« fragte ich.
    »Der Wachmann von der Nachtschicht. Verschwinde, oder ich ruf die Polizei!«
    »Wieso? Ich bin in der Abschlußklasse, die hier ihren Ball macht.«
    Er leuchtete mir ins Gesicht. Die Band spielte gerade >Deep Purple<.
    »Von wegen!« sagte er. »Du bist mindestens zweiundzwanzig!«
»Ich steh im Jahrbuch. Abschlußklasse 1939. Henry Chinaski.«
»Warum bist du dann nicht da drin am Tanzen?«
»Vergessen Sie’s. Ich geh nach Hause.«
»Na dann tu es auch!«
    Ich drehte mich um und ging weg. Der Lichtkegel seiner Stablampe folgte mir, bis ich das Schulgelände verlassen hatte. Es war eine angenehm warme Nacht, fast schwül. Ich glaubte, einige Glühwürmchen zu sehen, aber ich war mir nicht sicher.

    45

    Abschlußfeier. Mit unseren Troddelkappen und schwarzen Umhängen zogen wir zu den Klängen von >Pomp and Circumstance< in die Turnhalle ein. In unseren drei Jahren mussten wir wohl irgend etwas gelernt haben. Unsere Rechtschreibung hatte sich wahrscheinlich verbessert, und wir waren ein paar Zentimeter gewachsen. Ich war immer noch Jungfrau. »Hey, Henry, hast du schon deine Unschuld verloren?« »Keine Chance«, sagte ich jedes Mal. Jimmy Hatcher saß neben mir. Der Direktor hielt seine Rede und rührte kräftig in der alten Scheiße. »Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und wer es hier zu etwas bringen will, ob Mann oder Frau, wird auch Erfolg haben …« »Tellerwäscher«, sagte ich. »Hundefänger«, sagte Jimmy. »Einbrecher«, sagte ich. »Müllmann«, sagte Jimmy. »Irrenhauswärter«, sagte ich.
    »Amerika ist mutig, Amerika wurde aufgebaut von den Mutigen … Wir sind eine gerechte Gesellschaft …« »Aber es reicht bloß für die paar Wenigen«, sagte Jimmy.
    »… eine faire Gesellschaft, und alle, die den großen Traum am Ende des Regenbogens suchen, werden …«
    »… einen haarigen, madigen Scheißhaufen finden«, gab ich zu bedenken.
    »Und ich kann ohne Zögern sagen: Dieser Jahrgang, der heute unsere Schule verlässt, weniger als eine Dekade nach dem Beginn unserer schrecklichen Wirtschaftskrise - diese Abschlußklasse vom Sommer 1939 ist erfüllt von mehr Mut, Talent und Hingabe als alle bisherigen Klassen, die ich miterleben durfte!« Frenetischer Applaus von Müttern, Vätern und Verwandten. Ein paar Schüler schlossen sich an.
    »Abschlußklasse 1939, ich bin stolz auf eure Zukunft! Ich bin mir eurer Zukunft

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