Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend
ich mir ein Zimmer in der Innenstadt, möglichst nahe bei der Stadtbibliothek.
Während ich die Straße hinunterging, hatte ich das Gefühl, gar nicht mehr so allein zu sein. Ich war es auch nicht: Ein verhungerter Straßenköter folgte mir. Der arme Kerl war entsetzlich abgemagert. Seine Rippen standen heraus, seinem Fell waren die meisten Haare ausgefallen, und der Rest hing in strohigen verdrehten Büscheln dran. Der Hund war ein geprügeltes, eingeschüchtertes, verlassenes und verängstigtes Opfer des Homo sapiens.
Ich blieb stehen, ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Er wich zurück.
»Komm her, Alter, ich bin dein Freund … na los, komm schon …«
Er kam etwas näher. Er hatte unendlich traurige Augen.
»Was haben sie mit dir gemacht, Boy?«
Er kam noch näher. Tief geduckt kroch er heran, zitterte und wedelte unruhig mit dem Schwanz. Dann sprang er mir mit den Vorderpfoten an die Brust. Er war recht groß. Es war noch genug von ihm übrig. Ich fiel nach hinten um, lag platt auf dem Gehsteig, und er leckte mir das Gesicht. Mund, Ohren, Stirn, alles. Ich schob ihn von mir herunter, stand auf und wischte mir das Gesicht ab. »Nur nichts überstürzen. Du brauchst was zu beißen. ESSEN!«
Ich griff in meine Tüte und holte einen Sandwich heraus. Ich wickelte ihn aus und brach eine
Portion ab.
»Stück für dich, und ‘n Stück für mich, alter Junge.«
Ich legte ihm sein Stück aufs Pflaster. Er schnupperte daran, machte kehrt und hampelte davon. Einmal sah er noch zurück.
»Hey, warte, Kumpel! Das war ja einer mit Erdnußbutter! Komm her, ich hab auch noch einen mit Wurst. Hey, Boy, komm her! Komm zurück!«
Vorsichtig kam er wieder an. Ich nahm den Bologna-Sandwich heraus, riss ein Stück ab, wischte den billigen wässrigen Senf herunter und legte es ihm auf den Gehsteig.
Er ging hin, schnupperte, drehte sich um und trollte sich wieder. Diesmal sah er nicht mehr zurück. Er verfiel sogar in einen leichten Trab.
Kein Wunder, dass ich schon mein Leben lang so deprimiert war: Ich bekam nicht die richtige Nahrung.
Ich ging weiter in Richtung Kaufhaus. Es war dieselbe Straße, die ich täglich zur Schule gegangen war.
Als ich dort war, suchte ich den Personaleingang, stieß die Tür auf und ging hinein. Ich kam aus der prallen Sonne in einen dämmrigen Korridor. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich ein paar Schritte vor mir einen Mann. Er hatte irgendwann die Hälfte seines linken Ohrs verloren. Er war groß und hager, und seine winzigen grauen Pupillen gaben seinen ansonsten farblosen Augen einen stechenden Blick. In krassem Gegensatz zu seiner großen hageren Gestalt quoll ganz unvermutet ein trauriger und fürchterlich wabbeliger Bauch über seinen Hosenbund. Sein ganzes Fett hatte sich darin gesammelt, während der restliche Körper dürr und faltig geworden war.
»Ich bin Superintendent Ferris«, sagte er. »Ich nehme an, Sie sind Mr. Chinaski?«
»Ja, Sir.«
»Sie kommen fünf Minuten zu spät.«
»Ich bin aufgehalten worden, weil … Naja, ich bin unterwegs stehn geblieben, um einen verhungerten Hund zu füttern«, sagte ich mit einem Grinsen.
»Das ist eine der kläglichsten Ausreden, die ich je gehört habe, und ich bin schon fünfunddreißig Jahre hier. Konnten Sie sich nicht was Besseres ausdenken?« »Ich fang ja erst an, Mr. Ferris.«
»Sie sind auch fast schon wieder entlassen.« Er hob den Arm und zeigte zur Wand. »Also, da drüben ist die Stechuhr und daneben das Regal mit den Karten. Suchen Sie Ihre Karte und stempeln Sie ein.«
Ich fand meine Karte. Henry Chinaski, Angestellter Nr. 68754. Ich stellte mich damit vor die Stechuhr, wusste aber nicht, wie ich es machen sollte.
Ferris kam her, stellte sich hinter mich und starrte aufs Zifferblatt.
»Jetzt sind Sie schon sechs Minuten zu spät. Wenn Sie zehn Minuten Verspätung haben, ziehen wir Ihnen eine Stunde ab.«
»Dann sollte man vielleicht besser gleich ‘ne Stunde zu spät kommen.«
»Reißen Sie keine Witze. Wenn ich einen Komiker will, hör ich mir Jack Benny an. Wenn Sie
eine Stunde zu spät kommen, sind Sie gleich Ihren ganzen gottverdammten Job los.«
»Sie müssen schon entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie man eine Stechuhr bedient. Ich
meine, wie stempelt man da ein?«
Ferris nahm mir die Karte aus der Hand. Er zeigte darauf.
»Sehn Sie den Abschnitt hier?«
»Yeah.«
»Was?«
»Ja, wollte ich sagen.«
»Okay, das ist der Abschnitt für den ersten Wochentag.
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