Das Schlitzohr
empörten
Patschnaß-hurra-Genossen nicht abkühlen oder gar löschen. Es mußte
Fürchterliches geschehen. Und es geschah auch. Mein Schulkamerad Hans schlich
mit gezücktem Messer auf die Hängematte des Bogumil zu. Man sah die Schneide
des Messers in der Sonne funkeln, und alles blickte statt auf die
kettenverschnürte Glanznummer auf den meuchlings heranschleichenden
Messerhelden. Der einzige, der dem um seine Schau betrogenen Künstler zusah,
war Bogumil. Da blitzte das Messer in Kopfhöhe hoch und ratsch war das haltende
Seil durchgeschnitten. Es machte zweimal platsch, und Bogumil und der
gefesselte Schwimmkünstler waren gleichzeitig im Holzweiher gelandet. Als sie
wieder auftauchten, waren beide enttäuscht über das Hohngelächter, das jeder
der beiden auf sich bezog. Es kostete die Festleitung einige Mühe, den
Kettenkünstler zu beruhigen. Als er sich aber an dem ohnmächtigen Zorn Bogumils
geweidet hatte — er mochte ihn auch nicht — , war er zu einem zweiten Sprung
bereit, der ihm dann auch den ersehnten Beifall brachte.
Wie ungern meine Eltern meine Ausflüge
in die nähere und weitere Umgebung unserer Wohnung sahen, habe ich schon
erzählt. Aber hier in Isny hatte ich endlich einmal das Glück, daß mein
Herumstreunen wenigstens von meiner Mutter gewürdigt wurde. So kurz nach dem
Kriege saß allen noch die Not in den Knochen und die Hausfrauen huldigten der
Vorratswirtschaft. Vor allen Dingen war im Sommer die Marmeladebereitung ganz
großgeschrieben. Ganz oben an der Liste der Marmeladefrüchte stand die
Waldhimbeere. In dem ländlichen Isny hielt es damals keine Bürgersfrau für
unter ihrer Würde, mehrmals zur Himbeerzeit »in die Himbeeren« zu gehen.
Voraussetzung war natürlich, daß man einen guten Himbeerschlag wußte. Das war
gar nicht so einfach, denn gute Himbeerschläge waren ein streng gehütetes
Familiengeheimnis, das auch der besten Kaffeeschwester nicht verraten wurde. Da
ich die meisten meiner Ferientage im Wald verbrachte und dabei eine große
Vorliebe für unwegsame Gegenden an den Tag legte, kam ich eines Tages in eine
kleine Schlucht, die sich zu einem Tälchen weitete. Das ganze Tälchen war über
und über mit Himbeersträuchern bedeckt, die infolge der hohen Luft- und
Bodenfeuchtigkeit ungewöhnlich schöne Früchte trugen. Ich glaube, die alten
Konquistadoren konnten bei der Entdeckung eines neuen Dorados nicht stolzer
sein als ich bei der Führung meines Clans zu diesem Himbeerschlag. Wir
formierten uns morgens um halb sechs zum Abmarsch. Voraus mein Vater und ich
mit je zwei Wassereimern bewaffnet. In meinem Eimer lagen Milchkannen und
Kommißkochgeschirre als Erntegefäße und die Marschverpflegung, während mein
Vater Schürzen und andere Schutzkleidungsstücke in seinen Eimern hatte. Wir
bildeten gewissermaßen die Vorhut, meine Mutter und Großmutter die Kerntruppe.
Die Nachhut bestand aus meiner Schwester, die mißmutig hinterhertrottete und
sich durch diese Aktion als höhere Tochter irgendwie erniedrigt vorkam. Die
letzte Strecke vor dem Tälchen legten wir bangen Herzens zurück, weil wir
fürchteten, daß uns vielleicht ein anderer Himbeersucher zuvorgekommen war.
Aber wir hatten Glück, kein Konkurrent war in unser kleines Reich eingebrochen.
Dank der ungewöhnlich großen Beeren füllten sich die Gefäße sehr rasch, und wir
konnten schon am späten Nachmittag den Heimweg antreten. Jetzt änderte sich
unsere Formation insofern, als mein Vater und ich den größten Eimer gemeinsam
trugen und einen kleineren Eimer in der freien Hand hielten. Die restlichen
zwei Eimer trugen die drei Frauen gemeinsam. Immerhin 60 bis 70 Pfund Himbeeren
schleppten wir sieben Kilometer weit. Wir waren deshalb alle froh, als wir
unsere duftende Last zu Hause hatten. In diesem einen Sommer stellte meine
Mutter so viel Marmelade und Himbeersaft her, daß es, so oft ich wollte, meine
Leibspeise, Milchreis mit Himbeersaft, zum Essen gab.
...für das Leben
lernen wir
Als die Sommerferien vorüber waren, kam
ich in die Realschule in Isny. Da in Württemberg das Schuljahr im Frühjahr
endete, mußte ich den Stoff des Vierteljahres, das ich übersprungen hatte,
nachholen. Das war nicht besonders schwierig, da in den großen Ferien viele
Schüler doch sehr vieles vergessen hatten und deshalb das Pensum nochmals
aufgefrischt werden mußte. In Isny lernte ich einen neuen Typ von Realschule
kennen, der speziell in Württemberg verbreitet war. Die ganze Realschule
bestand
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