Das Schloß der blauen Vögel
einquartiert. Sie legte zwei knarrende Treppen und zwei Stockwerke dazwischen. »Sassner sucht seine Opfer auf der Autobahn. Dort lädt er sie auch ab. Was – so habe ich mir gedacht – geschieht, wenn Sassner plötzlich auf seine Frau trifft?«
»Das ist perfide!« Dorian riß die Tür auf und sprang hinaus auf die heiße Landstraße. Die Luft roch nach gesprengter, feuchter Erde. Von den Weinbergen wehte der Wind den Geruch in die Senke. »Das erlaube ich nie! Bernd, wir kehren zurück auf die Autobahn! Wie kann man eine solche Idee haben! Vergessen wir, was du gesagt hast.«
Eine halbe Stunde später öffnete ihnen der Gärtner das Tor zur Einfahrt der Villa Sassner. Luise Sassner empfing sie sofort, als das Hausmädchen Dorians Visitenkarte abgab.
Luise trug Schwarz. Ihr blondes Haar hatte sie schlicht nach hinten gekämmt und mit einer großen Spange aus Schildpatt zusammengehalten. Das machte ihr Gesicht streng, trauernd und doch ungemein jugendlich. Ein Hauch von Make-up überzog ihre Haut; das Lippenrot war nur angedeutet.
Seit dem Verschwinden ihres Mannes, den die Anwälte der Sassner-Werke für tot erklären wollten, um Luise Sassner der Form halber die Geschäftsführung zu übertragen, die dann doch Dr. Maier, der erste Direktor, übernehmen würde, lebte sie völlig zurückgezogen in dieser Villa. Die Kinder waren das einzige, was ihr Mut zum Leben gab. Die chemischen Fabriken, die Bilanzen, das Vermögen, das sie jetzt erst überblicken konnte, nachdem der Syndikus eine Aufstellung eingereicht hatte, die gesellschaftlichen Verpflichtungen, zu denen Dr. Maier sie drängte, weil sie, als Chefin, nun die Kontakte zu den Auslandskunden pflegen sollte, die Einladungen, die sie erhielt und aus denen sie herauslas, daß man mit ihnen nur wohltätige Ablenkungen bezweckte, alles das interessierte sie nicht. Auch die Mitteilung der Anwälte, daß man einen starken Verbündeten für die Todeserklärung bekommen habe, nämlich das Finanzamt, das sich ausrechnete, wieviel Tausende Mark an Erbschaftssteuer anfielen, nötigte Luise nur ein mattes Lächeln ab.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte sie schließlich. »Herr Direktor Maier soll alles regeln. Er war ein Freund meines Mannes. Wenn Sie glauben, Gerd sei tot … bitte, das ist Ihre Auffassung. Sie mag für die Fabriken richtig sein … für mich ist er nicht tot! Man soll ihn mir erst bringen. Ich will ihn sehen, dann erst glaube ich es!«
Die Kinder, Dorle und Andreas, fanden sich schneller damit ab, daß ihr Vater nicht mehr wiederkam. Sie weinten zwar manchmal, wenn sie sein Bild ansahen, aber ihr Alltag überdeckte bald den Schmerz. Sie mußten lernen, Latein und Mathematik pauken, chemische Formeln und geschichtliche Jahreszahlen behalten und die Erdzeitalter auswendig können. Freunde und Freundinnen kamen ins Haus, um gemeinsam zu lernen, und wenn das helle Lachen der Mädchen und Jungen von den Kinderzimmern hinab zur Terrasse wehte, dann saß Luise Sassner meist in einem breiten Korbstuhl und sah in den Garten.
Diese Erinnerungen sind furchtbar, dachte sie. Ich sehe Gerd, wie er hinter dem Motormäher hergeht und das Gras schneidet. Das hat er immer selbst getan, da durfte der Gärtner nicht 'ran. Oder der Korbstuhl, in dem ich sitze. Er hat ihn aus Spanien mitgebracht. Alles in diesem Haus und um dieses Haus zeigt seine Hand, spiegelt seinen Geschmack, ist sein Werk. Wie kann ich ihn je vergessen?
Im Winter, das hatte sie sich vorgenommen, wollte sie nach St. Moritz ziehen. Eine kleine Wohnung mieten, im Schnee und in der Sonne liegen, Spazierengehen oder mit dem glöckchenklingelnden Pferdeschlitten durch die Bergtäler fahren.
Aber ob das möglich war? Ob diese Flucht in einen neuen Beginn gelang? Sie verneinte es im voraus. Man kann vor der Erinnerung nicht davonlaufen, auch wenn man den Willen hat und sich einredet: Das Leben geht weiter! Es geht nicht mehr so weiter, wenn man einen Gerd Sassner geliebt hat …
Nun waren Professor Dorian und Dr. Keller da, die ganze Qual stieg wieder in ihr auf, die Tage in Hohenschwandt, die Operation, die fürchterlichen Stunden mit dem zerrissenen Schuh, den Sassner seinen Freund Benno Berneck nannte, die Nacht im Forsthaus und das entsetzliche Erwachen.
»Mein … Mann soll es sein …«, stammelte Luise Sassner, als Dr. Keller ihr seinen Verdacht erklärte. Er tat es so schonend wie möglich, aber die Wirkung auf Luise war dennoch wie ein Schock. Aus den Zeitungen wußte sie, was auf den
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