Das Schloß der blauen Vögel
Autobahnen geschehen war; sie hatte es gelesen, ohne sonderliche Beteiligung, nur mit dem Gedanken: Welch ein Mensch kann eine solche Bestie sein!
Nun erfuhr sie, daß es ihr Mann sein konnte. Ihr Herz setzte aus, sie sank nach hinten in den Sessel und verlor das Bewußtsein.
»Da haben wir es!« schimpfte Professor Dorian. »War das nötig?«
Sie trugen Luise Sassner auf die Couch, öffneten ihre Bluse und massierten die Stirn und die Brust mit einem parfumgetränkten Taschentuch Angelas. Das alte Hausmittel half vorzüglich. Luises Atem wurde stärker, Blut kehrte in ihr Gesicht zurück, der Puls wurde schneller. Sie wachte auf und raffte ihre Bluse zusammen.
»Verzeihen Sie«, sagte sie leise. »Mein Herz … alles drehte sich um mich. Aber jetzt geht es wieder.« Sie atmete ein paarmal tief ein und wandte dann den Kopf zu Dr. Keller. »Sprechen Sie weiter, Doktor.«
»Ich sollte vielleicht schweigen, wie es der Herr Professor will.« Dr. Keller vermied es, Luise Sassner anzusehen. »Es sind bis heute ja alles Hirngespinste. Wir alle sind wie durchgedreht, die Polizei am allermeisten. Noch jagen wir ein Phantom …«
»Aber … aber es könnte Gerd sein …« Luises Stimme brach.
Dr. Keller nickte.
»Ja. Es ist eine von vielen Möglichkeiten.«
»Und … und was soll ich tun?«
Dorian sprang auf. Wie bei sich zu Hause begann er, in dem großen Zimmer hin und her zu laufen.
»Was Doktor Keller Ihnen vorschlagen will, ist unmöglich«, rief er dabei. »Es ist eine Zumutung! Das hält kein Mensch aus. Gnädige Frau, hören Sie ihn nicht an! Lassen Sie uns in den Garten gehen …«
Luise Sassner wandte sich zu Dr. Keller. Der junge Arzt saß blaß in dem breiten Ledersessel. Angela hockte neben ihm auf der Lehne und hielt seine Hände. Es war ein Anblick, der Luise mitten ins Herz traf. Zwanzig Jahre rollten zurück.
Gerd Sassner zum erstenmal bei ihren Eltern. Schmal, ausgehungert, noch gezeichnet von seiner schweren Kriegsverwundung. Und sie hatte in Vaters Arbeitszimmer auf der Sessellehne gesessen, ihren Liebsten gestreichelt und seine Hände gehalten.
»Der soll mein Schwiegersohn werden?« hatte ihr Vater gesagt. »Wenn der Wind weht, muß ich ja hinter ihm herrennen und ihn festhalten!«
Zwanzig Jahre Glück.
»Was wollen Sie mir sagen, Doktor?« fragte Luise mit klarer Stimme.
»Wenn Ihr Mann dieses Phantom ist, wird er in den nächsten Nächten neue Opfer suchen. Drei hat er gerade abgeliefert. Es ist fast sicher, daß er nicht noch mehr in diesem geheimnisvollen Haus versteckt hält, denn die Verletzten haben keine anderen Menschen gesehen oder gehört. Er wird also wieder über die Autobahn jagen.«
Dr. Keller preßte die Hände zusammen, die Finger waren weiß. »Ich gehe von den psychiatrischen Erfahrungen aus, daß Geisteskranke oft ihre nächsten Angehörigen – die Mutter, die Frau, den Mann – erkennen und sich von ihnen leiten lassen. Wenn wir die Möglichkeit schaffen, daß Sie und Ihr Mann zusammentreffen, dann –«
»Das ist ein verrückter Plan!« rief Dorian dazwischen. »Ich bin dagegen! Die Gefahren sind gar nicht abzusehen …«
»Ich habe keine Angst«, sagte Luise Sassner schlicht. »Ich habe vor meinem Gerd keine Angst.«
»Und wenn es ein anderer ist?«
»Ich werde immer in Ihrer Nähe sein, gnädige Frau.« Dr. Keller beugte sich vor und ergriff Luises Hände. Sie waren eiskalt, aber sie zitterten nicht. »Ich fahre hinter Ihnen her. Es kann gar nichts passieren.«
»Es ist gut.« Luise Sassner ließ sich auf die Couch zurücksinken. Mit geschlossenen Augen atmete sie dreimal tief ein, als sauge sie damit Mut in ihren Körper. »Ich versuche es. Ich fahre heute nacht über die Autobahn. Mein Gott, laß es nicht Gerd sein …«
9
Um 23 Uhr begann Luise Sassner, von Rastplatz zu Rastplatz zu fahren und dort jeweils zehn Minuten zu halten. Auf Kellers Wunsch hatten sie die Autobahn Frankfurt - Basel gewählt, auf der Sassner die meisten Menschen entführt hatte.
Sie fuhr ihren kleinen hellen Sportwagen. Dr. Keller folgte ihr mit einem geliehenen Porsche. Er hatte sich bewußt diesen schnellen Wagen geliehen, um zu verhindern, daß Sassner ihm vielleicht mit einem überlegenen Auto davonbrauste.
Es war 0 Uhr 10, als Luise auf dem Rastplatz bei Kenzingen hielt.
Um 0 Uhr 11 bog Sassner von der Auffahrt Lahr auf die Autobahn.
Dreizehn Kilometer lagen zwischen Luise und Gerd Sassner.
Es war eine merkwürdige Nacht. Milchige Wolken überzogen den Nachthimmel. Der
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