Das Schloß der blauen Vögel
Hände.
»Dann sind wir beide ganz allein«, sagte sie. »Sie haben Ihren Mann verloren … und ich den Vater.«
Im OP hatte Dorian jetzt zwei Seiten des Schädels durch eine osteoplastische Schädelaufklappung geöffnet. Nach der Präparierung eines runden, gestielten Hautlappens hatte er einen aufklappbaren Knochenlappen gebildet, der am umschnittenen Stiel des Muskulus temporalis hing. Die Schädelplatte war mit im Kreis angeordneten Bohrlöchern versehen worden, durch die nun die Giglisäge gezogen wurde. So wurde die Knochenplatte von Bohrloch zu Bohrloch durchtrennt, bis sie wie eine Scheibe herunterklappbar war und das Hirnteil freilag. Nach der Operation konnte Dorian dann den nach unten geklappten Knochenlappen wieder reponieren und fixieren und mit dem gestielten Hautlappen bedecken. Nur eine kreisrunde Narbe, über die später die Haare wuchsen, würde verraten, daß man hier einen Blick in das Geheimnis der Seele getan hatte.
Dorian trepanierte den Schädel an drei Stellen zugleich, was den zuschauenden zehn Professoren bereits ein Staunen und innere Abwehr abnötigte. Er öffnete Sassners Schädel an den beiden Seiten und darüber hinaus noch an der Decke, wo er ein großes, kreisrundes Fenster aus der Schädeldecke fräste. Wie ein abstraktes Gefäß sah jetzt der Kopf aus … man erwartete, daß jeden Augenblick die weißgraue, mit Blutrinnen durchzogene Masse herausfließen würde.
Im OP war es heiß und stickig. Dr. Kamphusen schwitzte wie auf einem Saunarost. Dorian arbeitete unter seiner Schürze fast nackt; er trug nur eine leichte Leinenhose und ein Unterhemd.
»Bitte!« sagte er laut, als der untere Teil des Orbitalhirns sichtbar wurde. »Das hat man auf keinem Röntgenbild gesehen, das konnte man nur ahnen: ein alter traumatischer Hirnschaden. Teilweise Zerstörung der Rinde, dafür ein lockeres Narbengewebe aus Glia- und Bindegewebszellen. Hier hat ein Hämatom gesessen, von dem niemand wußte. Es wurde im Laufe der Jahre aufgesaugt, zurück blieben diese Veränderungen. Der fortschreitende Prozeß der Persönlichkeitswandlung ist damit erklärbar. Ich hatte recht, meine Herren.«
Dorian beugte sich über den offenen Schädel des Patienten.
Die Stunde der Wahrheit kam.
»Was wollen Sie nun tun, Kollege?« fragte Professor Suriani aus Turin.
»Ich nehme das Narbengewebe heraus. Ich trenne es aus.«
»Und dann? Der Verfall der Persönlichkeit ist perfekt!«
»Warum?« Dorian blickte über den Schädel hinweg zu den zehn Kollegen. Er sah ihre Augen. Hyänenaugen, so kam es ihm vor. »Dieses Narbengewebe hatte keinerlei Funktion, bis auf die, daß es störte. Sassner lebte weiter. Ich nehme das Unnütze heraus, sichere die Umgebung durch Koagulation gegen postoperative Blutungen ab und zwinge das Gehirn, mit anderen Zentren die Aufgaben des kupierten Bruders zu übernehmen. Vor allem will ich 47, 10 und das Zingularhirn aktivieren … das Zusammenspiel dieser drei wird den Ausfall von 11 wettmachen.«
Dorian sah wieder auf seine zehn berühmten Kollegen. Ihre Augen gaben ihm stumme Antwort: Unmöglich. Du bist kein Gott! Was wissen wir denn von dem, was man Seele nennt? Denk an den Satz aus dem Lehrbuch: ›Wie das Leben arbeitet, wie Seelisches sich in Körperliches und wieder zurück verwandelt, ist das Geheimnis, das nicht enträtselt werden kann. Unbeantwortbar ist die Frage, wo das Seelische, das wir jederzeit wieder hervorholen können, bleibt.‹
Und Sie, Dorian, wollen die Seele korrigieren? Mit dem Messer, mit haarfeinen Elektronadeln?
Machen Sie den Schädel zu! An Gott glaubt man … man schneidet ihn nicht auf!
Dorian streckte die Hand aus. Kamphusen reichte ihm eine der Reiznadeln. Er zittert, dachte Dorian bitter. Sie alle zittern. Kamphusen, die Assistenten, die Schwestern, die berühmten Kollegen. Soll ich abbrechen? Soll ich die Löcher schließen? Soll ich kapitulieren vor der allgemeinen Angst?
»Weiter!« sagte er laut und hart.
Vom Festschnallen des Patienten auf dem OP-Tisch bis jetzt waren drei Stunden vergangen …
Draußen im Park warteten Luise Sassner und Angela Dorian. Einige Patienten saßen unter Sonnenschirmen am Rand der Blumenbeete. Rasensprenger drehten sich, im stäubenden Regen brach sich das Licht der Sonne zu glitzernden, bunten Farben.
»Ich frage mich immer, ob wir nicht doch besser mit der Operation hätten warten sollen«, sagte Luise. Nach der Verzweiflung kamen nun die Selbstvorwürfe. »Vielleicht wäre alles von selbst wieder
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