Das Schloß der blauen Vögel
Gäste reisten wieder ab. Sie nahmen die Gewißheit mit, daß Sassner diesen Eingriff nicht überleben würde. Man erwartete täglich die Nachricht aus Hohenschwandt: Patient verstorben. Im übrigen verschweigt man, was man bei Dorian gesehen hatte. Solange Dorian nicht selbst in einem medizinischen Fachblatt seine an göttliche Versuchung grenzende Operation beschrieb, sah man keinen Grund, darüber zu sprechen. Warum sich blamieren? Das konnte Dorian allein. Man war sich nur in einem Punkt völlig einig: eine solche Operation würde in der eigenen Klinik nie erlaubt werden. Wenn Dorians Patienten das mitmachten … ihre Sache. In den Rahmen der bisherigen Neuro- und Psychochirurgie jedenfalls paßte Dorians ›Seelenschnitt‹, wie Professor Jeanmaire aus Paris die Operation spöttisch nannte, nicht hinein. Am Gehirn experimentiert man nicht.
Aber Sassner lebte weiter.
Er schlief acht Tage lang, wurde durch Sonden ernährt, bekam Traubenzuckerinfusionen mit Antibiotika.
Die ersten drei Tage waren kritisch. Dorian verbrachte jede freie Minute an Sassners Bett; er saß wie eine Ehrenwache neben dem dick verbundenen Kopf, trank Unmengen Kaffee, beobachtete die angeschlossenen Meßapparate … Blutdruck, Pulsschlag, Atemfrequenz, Herztöne … gab Sauerstoff, injizierte Herzstützen, infundierte sauerstoffhaltiges Blut, er tat alles, was zu tun war – und wartete.
Luise durfte ihren Mann nur durch das Fenster vom Vorzimmer aus sehen. Oft stand sie da, das Gesicht an die Scheibe gepreßt, und starrte ihren Mann an. Das braune Gesicht war fahl geworden, die Nase spitzer, das Kinn eckiger. Wenn er mit offenem Mund dalag, sah er schrecklich aus, wie ein Erstickter, wie ein hilflos Schreiender.
Die Kinder waren beeindruckt. Dr. Keller, der nun den internen Klinikdienst machte, hatte ihnen alles erklärt. Was die Sonde in der Nase bedeutete, die vielen Drähte an der Brust und an den Armen, die Nadel mit dem Schlauch, der zu einer Flasche an einem chromblitzenden Gestell führte, aus der es langsam heraustropfte. Er hatte ihnen die Angst vor dem Anblick genommen, den Sassner bot.
»Wenn er übermorgen aufwacht, wird er schön über seinen Turban lachen«, sagte Andreas und rieb sich die Hände. »Ich habe meinen Fotoapparat mit. Ich werde Paps sofort knipsen …«
Und dann kam der Tag, an dem Professor Dorian entschied, daß Gerd Sassner erwachen dürfe. Der Schlaf wurde unterbrochen, der Kreislauf wurde durch Injektionen angeregt, Infusionen und Sonden wurden abgenommen, aber in Bereitschaft gehalten. Auf einem Tablett, griffbereit, lagen Spritzen mit Megaphen, um sofort zu dämpfen, wenn Sassner nach dem Erwachen große Unruhe zeigen sollte.
Es war vormittags um zehn Uhr, als Dorian sich dem Schicksal stellte.
Wie reagierte das Gehirn, wenn es wieder frei arbeiten durfte?
Welch ein Mensch war Sassner geworden?
Dr. Keller dunkelte das Zimmer durch vorgezogene Vorhänge ab. Dorian sprach nur in Stichworten zu ihm, unpersönlicher ging es nicht mehr. Dr. Kamphusen umschwirrte Dorian wie ein Rad schlagender Pfau die Henne. Er sprach mit Dr. Keller überhaupt kein Wort mehr. Ihre Feindschaft war vollkommen.
Hinter dem Fenster des Vorraumes stand Luise mit gefalteten Händen, als Sassner die Augen aufschlug. Sie betete.
Mein Gott, dachte sie. Lieber, lieber Gott, laß es gut gehen! Gib uns unseren Papi wieder. Bitte … lieber Gott …
»Guten Morgen«, sagte Dorian freundlich und beugte sich vor. Sassners Blick war noch weit weg, umflort, verhangen, in Nebeln gefangen. Dann schien er klarer zu sehen, sein Blick nahm Leben an, schien Gegenstände zu erkennen.
Das Gehirn erinnerte sich: Ich lebe.
Ich! – Welch eine Leistung, sich selbst zu erkennen, über sich selbst zu denken. Es ist das Erwachen der Seele.
»Guten Morgen!« wiederholte Dorian. »Wir haben köstlich geschlafen! Und jetzt scheint die Sonne.«
Dorian wartete. Es kam ihm darauf an, ob Sassner logisch reagierte, ob er neben optischen Wahrnehmungen auch akustische hatte. Deshalb fügte er sofort hinzu:
»Seien Sie froh, daß Sie im Bett liegen bei diesem regnerischen Sauwetter.«
Sassner drehte den Kopf langsam zu Dorian. Seine Lippen verzogen sich etwas. »Ich denke, die Sonne scheint?« flüsterte er.
»Bravo!« Dorian ergriff Sassners schlaffe Hände. »Natürlich scheint die Sonne. Doktor Keller hat nur die Vorhänge zugezogen, damit Sie sich an das Licht gewöhnen. Wie geht es Ihnen?«
»Ich habe Durst.«
»Sie bekommen gleich einen
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