Das Schloß der blauen Vögel
verschwunden, so wie es gekommen ist. Weiß man das?«
Angela schüttelte den Kopf. Ein schlanker, großer Mann mit weißen Haaren kam die Beete entlang. Er trug eine Tennishose, ein weißes Sporthemd und in der Hand ein dickes Heft. Mit einem Bleistift ging er von Blume zu Blume, tippte sie an und machte in das Heft einen Strich. Ab und zu blieb er stehen und zählte die Striche, schüttelte den Kopf, ging eine Strecke zurück und begann von neuem, jede Blume anzukreuzen.
»Doktor Wilhelm Hagges«, sagte Angela und faßte Luise unter. »Besitzer einer großen Baufirma. Wenn Sie mit ihm sprechen, ein völlig normaler Mensch, geistreich, belesen, kulturell interessiert, liebt Beethovenkonzerte und Opern. Millionär. Er leidet nur an einem: Er hat einen Zählwahn. Überall und alles muß er zählen. Es fing harmlos an … erst zählte er die Stühle in seinen Büros, dann die Heftklammern, dann die Bäume in seinem Garten. Er kämpfte dagegen an, er erkannte selbst, wie sinnlos dieses Zählen ist … aber so sehr er sich im Zaum hielt, so sehr er alles versuchte, davon abzukommen … es wurde immer schlimmer. Nachts wanderte er herum, weil er Angst hatte, sich verzählt zu haben. Dann kam die Zeit, wo die Zahl Fünf seine ganze Seele eroberte. Plötzlich mußten alle Türen fünf Schlösser haben, er verlangte, daß alle Fenster fünffach unterteilt wurden, Blumen mußten in Fünfergruppen gepflanzt werden, am Tisch mußten immer fünf Personen sitzen … sah er etwas, was sich nicht durch fünf teilen ließ, wurde ihm übel. Er schloß sich ein, lebte in einer eigenen Welt, in der alles fünffach war, sogar die Rippen der Heizkörper mußten fünf oder zehn oder fünfzehn sein. Er wurde entmündigt, seine Frau und zwei Söhne führen die Firma. Ihm ist das alles gleich. Er will nur die Abrechnungen sehen, natürlich fünffach. So kam er zu uns … ein Wrack, ausgehöhlt von seiner Zwangsneurose. Mein Vater hat alles versucht, aber welche Mittel hat man denn? Man kann eine Seele nicht ›besprechen‹, nicht bei solchen Kranken. Man kann sie nur führen, beruhigen. Aber heilen?«
Luise wandte sich ab. Dr. Hagges stand ratlos vor einem Blumenbeet. Er hatte die Zahlen von gestern vor sich … heute fehlten drei Blumen. Das schien ihn maßlos zu erschüttern. Tränen traten in seine Augen. »Fräulein Angela!« rief er und winkte verzweifelt mit dem Heft. »Fräulein Angela! Hier stört jemand die Ordnung. Im Wald ist es genauso. Da verschwinden Bäume! Verschwinden einfach! Ich muß den Herrn Professor sprechen. Dringend!«
»Nach dem Essen, Herr Doktor!« rief Angela zurück. »Mein Vater wird das sicherlich sofort in Ordnung bringen.«
Zufrieden ging Dr. Hagges weiter. Jetzt zählte er die Sträucher.
»Furchtbar …« stammelte Luise Sassner.
»Soll Ihr Mann auch so werden?«
»Um Himmels willen!« schrie Luise auf. »Wenn Ihr Vater das verhindern kann …«
»Er ist jetzt dabei. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren.«
Sie gingen hinunter zum Bach, wo Dorle im Gras lag und Andreas versuchte, Forellen mit der Hand zu fangen.
»Was macht Paps?« rief er. Auch Dorle sprang aus dem Gras hoch.
»Weißt du schon was, Ma?«
Luise Sassner nickte tapfer. »Wir bekommen ihn gesund zurück, Kinder. Ganz gesund …«
Dann brach ihre Stimme. Sie hatte eine unerklärbare, fürchterliche Angst.
Die Operation gelang.
Jedenfalls sagte das Professor Dorian zu seinen Kollegen, die ihn skeptisch ansahen. Dr. Kamphusen hatte die Schädelaufklappungen an den Seiten wieder geschlossen und die Schädeldeckenplatte wieder eingesetzt. Ein dicker Kopfverband verwandelte Sassner in einen Orientalen. Noch in tiefer Narkose wurde er aus dem OP gerollt und in ein neues Zimmer gefahren.
Zimmer acht, am Ende des Ganges, war zum Sperrgebiet erklärt worden. Es hatte einen kleinen Vorraum, in dem von jetzt ab Tag und Nacht eine Schwester oder ein Arzt sitzen würde, um Sassner zu beobachten und bei Komplikationen einzugreifen. Ein Sauerstoffzelt war aufgebaut worden, Infusionsgalgen, Kanülen zur künstlichen Ernährung.
Professor Dorian hatte die postoperative Phase geändert. Er wollte den Patienten nicht sofort aufwachen lassen, sondern dem Hirn Ruhe gönnen. Acht Tage sollte Sassner noch schlafen, ehe er in die veränderte Welt zurückkehrte.
Luise hatte die Kinder von der Schule beurlauben lassen. Von der Fabrik kam ein riesiger Blumenkorb nach Hohenschwandt. Die Belegschaft wünschte gute Besserung. Die zehn berühmten
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