Das Schloß der blauen Vögel
armseliger Kinderkörper. Ein Säugling, eben geboren und schon wieder getötet? Von wem? Wer konnte das jetzt noch feststellen?
»Schweinerei!« Polizeimeister Hiemeyer sah den Staatsanwalt an. »Was so alles in einem See ist …«
Der winzige Kinderkörper wurde in die Zinkwanne gelegt, die man für Gerd Sassner bereithielt. Hiemeyer deckte ein Laken darüber.
Nach siebenstündiger Suche kam der Taucher wieder ins Boot. Er winkte müde ab.
»Nichts! Gar nichts! Ich verstehe das nicht!« Er lehnte sich zurück und ließ sich die schweren Bleistiefel ausziehen. »Wenn es ein Unfall war, muß die Leiche zu finden sein. Anders ist es, wenn er Selbstmord verübt hat. Die Taschen voll Steine, vielleicht einen dicken Stein um den Hals gebunden … dann liegt er irgendwo unter dem Schlamm … Kinder, gebt mir mal einen aus der Pulle!«
Die Suche wurde abgebrochen.
Gerd Sassner war tot … aber er wurde nicht für tot erklärt.
Ohne Leiche ist ein Mensch nicht tot.
Lehrer Gottfried Haempel schrieb ein neues Kapitel der Chronik von Wilsach.
Er wählte dazu eine dramatische Überschrift: Der rätselvolle Tod im See.
Luise Sassner und die Kinder fuhren zurück nach Stuttgart. Die Villa glich einem Treibhaus … Blumensträuße und Körbe bedeckten jeden freien Platz. Die Direktion der Fabrik sprach Luise ihr Beileid aus.
»Das Werk wird weiterarbeiten im Geiste Ihres Gatten. Er wird uns Vorbild und Ansporn sein. Sein schöpferischer Geist wird immer unter uns weilen …«
Große Worte, die gegen ein leeres Herz klangen.
Worte, die Endgültiges ausdrückten: den Tod.
Und dagegen wehrte sich Luise. Für sie war Gerd Sassner nicht tot. Solange man nicht seinen Körper gefunden hatte, lebte er für sie. Ein unerklärliches Gefühl gab ihr die Kraft, zu glauben: Er lebt.
Wo und wie und wieso … das sind Fragen, die man einer hoffenden Frau nicht stellen soll.
Er lebt noch … ist das nicht genug, wenn man daran glauben kann?
Durch den Wald der Klinik Hohenschwandt rannte Angela Dorian. Zwei Männer verfolgten sie, aus ihren aufgerissenen Mündern stießen sie unartikulierte Laute. Es klang wie das heisere Gebrüll von Hyänen, wurde höher wie ein Heulen und dann wieder stoßweise und dumpf, raubtierhaft und gefährlich. Die Männer rannten nebeneinander her wie Roboter, mit stampfenden Beinen, stieren, ausdruckslosen Augen und verzerrten Mienen.
Vor fünf Minuten waren sie Angela Dorian im Wald begegnet. Sie standen zwischen den Bäumen, als hätten sie auf sie gewartet, und gaben keine Antwort, als Angela sie begrüßte. Es waren keine Unbekannten … der eine war ein Architekt, der seit neun Monaten auf Hohenschwandt lebte und sich einbildete, den Turmbau zu Babel geplant zu haben. Es gab Wochen, wo er völlig normal war, ein ruhiger, höflicher, äußerst kluger Kurgast in der Klinik, der an seinem Zeichenbrett saß und wirklich hervorragende Entwürfe machte, die später von seinem Büro auch in die Tat umgesetzt wurden. So hatte er auf Hohenschwandt ein Kaufhaus entworfen, das einer der modernsten und schönsten Bauten der Stadt zu werden versprach. Ganz plötzlich aber, und deshalb war er in Hohenschwandt, kam dann der Wahnschub über ihn; man konnte diese Stunde des Ausbruchs nie vorhersagen, es konnte mitten in einem Gespräch sein. Dann sprang er auf, streifte die Hosen herunter und klatschte sich auf den nackten Hintern. »So wahr, wie dieser Arsch glatt und rund ist«, schrie er, »baue ich euch den Turm in den Himmel! Was heißt hier Statik? Der Turm von Mensch steht auch nur auf zwei kleinen, platten Fundamenten! Mein Turm bricht nicht zusammen!«
Der Anfall dauerte meistens drei Tage. Wenn er aus seinem Wahn wieder erwachte, konnte er sich an nichts erinnern, schämte sich sogar, entschuldigte sich bei allen anderen Kranken und verkroch sich wieder hinter seinem Reißbrett.
Der andere Mann im Wald war ein Lebensmittelgroßhändler. Sein Wahn kam ganz plötzlich und war nicht mehr zu heilen, so sehr es Dorian auch mit Hypnosen und Schocks versuchte. Als letzter Ausweg blieb noch eine Leukotomie, aber vor ihr scheute Dorian zurück.
»Das ist keine Lösung«, sagte er immer. »Das ist eine Flucht in die Bequemlichkeit.«
Es begann, als der Lebensmittelgroßhändler heiratete. Seine Auserwählte hieß Dorette und tanzte seit vier Jahren in einer Bar. Er wußte, daß sie nicht mehr unschuldig war, er kannte ihr Vorleben, aber er liebte sie trotzdem heiß und – wie sich nachher im wahrsten Sinne
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