Das Schloß der blauen Vögel
Notizen. Vorhin, als er die festgeschnallten tobenden Kranken beobachtet hatte, war er noch nicht sicher … jetzt wußte er es. Ein Erkennen, das ihm Angst einflößte.
»Sie haben einen posthypnotischen Auftrag erfüllt«, sagte er später an Angelas Bett und sah an Dr. Keller vorbei. »Jemand hier im Haus hat sie hypnotisiert und ihnen den Auftrag gegeben, Angela anzufallen, wo immer sie in den nächsten Stunden sie sehen würden. Das haben sie getan, dem fremden Willen unterworfen.« Dorian sah auf seine schlafende Tochter. Trotz der Beruhigungsinjektion zuckte ihr Gesicht. »Es ist jemand hier im Haus, der Panik unter die Patienten bringen will.«
»Das wäre ein Verbrechen ohne Beispiel«, sagte Dr. Keller rauh.
»Was sollen wir tun? Die Polizei einschalten?«
»Noch nicht! Es muß möglich sein, selbst Klarheit zu schaffen. Angela sollte ein Opfer sein. Ich bin damit angesprochen, von heute ab nach allen Richtungen mißtrauisch zu sein. Vielleicht gelingt es mir, diesen Schuft zu entdecken. Er kann nur aus dem geschulten Personal kommen!«
»Dann viel Glück.« Dorian erhob sich abrupt. »Sie werden es besonders schwer haben. Denn wenn man die Patienten fragt, mit wem sie zuletzt zusammen waren, fällt immer nur ein Name, Doktor Keller …«
»Aber das ist doch irrsinnig!« schrie der junge Arzt außer Atem.
»Stimmt!« Dorian ging langsam zur Tür. »Wir leben ja auch in einem Irrenhaus …«
5
Am späten Abend des 24. August fuhr Ilse Trapps mit ihrem weißen Kombiwagen über die Autobahn nach Hause. Sie kam von Freiburg, wo sie im Großhandel eingekauft und ihre verheiratete Schwester kurz besucht hatte.
Ilse Trapps war dreißig Jahre alt, hatte rote Haare, eine weiße, zarte Haut, wie man sie oft bei Rothaarigen findet, grüne Augen und eine dralle, aber durchaus nicht dickliche Figur. Sie war mittelgroß, temperamentvoll, lachte gern, las Heftromane, in denen möglichst viel Liebe vorkommen mußte, studierte in den Illustrierten die Aufklärungsserien und las bestimmte Stellen ihrem Mann, dem Gastwirt Egon Trapps vor, damit er merkte, was Ilse alles bei ihm verpaßte. Sie war seit neun Jahren verheiratet und hatte schon nach einem Jahr die Illusion verloren, eine Ehe sei etwas Besonderes.
Ihr Leben spulte sich jeden Tag nach dem gleichen Plan ab. Nach dem Aufstehen und Kaffeetrinken hinunter in die Wirtschaft, kehren, putzen und scheuern, die Stühle rücken, decken, den Tresen polieren, hinüber zum Stall, wo Egon Trapps schon die Kühe versorgt hatte und das Schweinefutter auf dem Stallherd wärmte. Ab elf Uhr kamen dann die ersten Gäste, meistens Fernfahrer, die eine Cola tranken, Ilse in den Hintern kniffen, Witze über ihre Brüste rissen und Egon Trapps ärgerten, daß er mit seinen fünfzig Jahren ein Feuer wie Ilse nicht mehr löschen könne. Ab und zu verirrten sich auch Hotelgäste in das Gasthaus und blieben eine Nacht. Dann kamen ein paar schöne Stunden für die rote Ilse. Während Egon Trapps schnarchend im Ehebett lag, schlüpfte sie bei den männlichen Gästen, die ihr gefielen, unter die Decke und kassierte am Morgen einen Extrazimmerpreis ›mit Bedienung‹. Auf diese Art rentierte sich die Gastwirtschaft und warf einen bescheidenen Gewinn ab, so abgelegen und einsam sie auch war. Im Laufe der Jahre bildeten sich sogar Stammgäste heran, die zweimal im Jahr die rote Ilse beschliefen. Meistens waren es Reisende, die im Frühjahr und Herbst ihr Tour abrissen und Ilse Trapps' Adresse an Kollegen weitergaben.
Egon Trapps merkte von alledem nichts. Er wunderte sich bloß, daß sein Lokal trotz der einsamen Lage einen solchen Zulauf hatte.
An diesem Abend des Vierundzwanzigsten war Ilse bester Laune. Es regnete zwar, die Autobahn war glatt, die Scheinwerfer reflektierten ekelhaft, aber der Tag in Freiburg klang noch in Ilse nach. Sie hatte ihn regelrecht verbummelt, nachdem sie im Großhandel für die Wirtschaft eingekauft hatte. Bei ihrer Schwester war sie nur eine Stunde gewesen. Dann hatte sie im Kino einen ziemlich nackten Schwedenfilm angesehen und regelrechten Hunger auf einen Mann bekommen. Es wurde so schlimm, daß sie kaum noch ruhig sitzen konnte. Das Ende des Films war eine Erlösung … sie lief durch die Straßen und rannte ihre Sehnsucht einfach weg. Männer gab es genug … aber die Zeit fehlte. Egon erwartete sie frühzeitig zurück.
Ilse Trapps fuhr langsamer, als sie das blaue Hinweisschild eines Rastplatzes im Scheinwerfer auftauchen sah. Noch 500 Meter. Der
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