Das Schloß der blauen Vögel
war im Wäschefach gestapelt. Dann glitt ihr Blick hinüber zum Waschbecken, und in diesem Moment wußte sie, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte.
Auf der Glasablage fehlten Rasierapparat, Pinsel und Rasiercreme. Das neue Stück Herrenseife war nicht mehr da. Es fehlten das Frottierhandtuch, der Waschlappen, das Haarwasser, die Zahnbürste.
»Mein Gott«, stotterte Luise und drückte die Fäuste gegen den zitternden Mund. »Was ist denn passiert? Wo ist denn Gerd? Gerd … was ist denn? Gerd …?«
Sie rannte hinaus, hinüber zu den Kindern, die noch in den Betten lagen und lasen.
»Paps ist weg!« schrie Luise und lehnte sich an die Wand. »Ich habe es nicht gemerkt. Er ist weg … einfach weg …«
Dann lief sie hinunter und alarmierte den Förster.
Man wartete bis zum Mittag, ehe man die Polizei rief. Es waren Stunden, in denen Luise wie erstarrt dasaß, auf nichts mehr reagierte, keine Antworten gab und so wenig Leben zeigte wie eine in Stein gehauene Figur. Nur ihre Augen lebten und sahen hinaus in den Wald. Und diese Augen schienen zu wissen: Er kommt nicht wieder. Auf dem Höhepunkt des Glücks bricht unsere Welt zusammen. Was soll die Polizei noch? Es ändert sich nichts mehr. Das Schicksal hatte uns nur eine kleine Frist gewährt … jetzt ist sie vorüber.
Die Kinder saßen neben Luise am Fenster und warteten auch. Dorle weinte still, Andreas fühlte, daß er als Junge tapfer zu sein hatte, und legte den Arm um die Schulter seiner Mutter.
»Er hat sich verlaufen«, sagte er stockend. »Bestimmt hat er sich nur verlaufen. Hier sehen ja alle Bäume gleich aus. Paß auf, auf einmal kommt ein Anruf aus irgendeinem Dorf, in dem er gelandet ist … Wenn Paps einmal wandert, macht er 'ne ganze Safari …«
»Ich denke mir das auch.« Der Förster reichte Luise eine Schachtel Zigaretten hinüber. Sie schüttelte stumm den Kopf. »Wir hatten schon öfter Gäste, die einen Rundgang machen wollten und später aus dem zehn Kilometer entfernten Breitachtal anriefen. Verlorengegangen ist hier noch niemand. Wenn man geradeaus geht, trifft man immer auf Menschen …« Es sollte ein Scherz sein, ein wenig aufheitern, aber an Luise flossen die Worte vorbei wie ein unverständliches Murmeln.
Warum hat er das Waschzeug mitgenommen? dachte sie. Was soll das bedeuten? Er muß es in die Taschen gestopft haben. Keinen Koffer hat er mitgenommen, keinen Badebeutel, nichts. Er ist mit leeren Händen gegangen. Im Schrank hängen die Anzüge, liegt die Wäsche …
Gegen drei Uhr nachmittags kam die Polizeistreife zurück. Die Beamten gingen sofort in das Privatzimmer des Försters und vermieden es, von Luise gesehen zu werden. Aus einem Sack holte der Polizeimeister einen Hut und einen Wettermantel und legte beides auf den Tisch.
»Das haben wir am See gefunden«, sagte er. »Direkt am Ufer, wo es steil abfällt.«
»Eine Sauerei.« Der Förster ging zum Wandschrank, holte Gläser und eine Flasche Kirschwasser und gab erst einmal eine Runde aus. »Es sind Herrn Sassners Sachen, nicht wahr?«
»Im Hut, im Schweißleder, sind die Initialen eingekniffen: GS. Der Mantel ist in Stuttgart gekauft. Modehaus Edelmann.«
»Wie sagt man ihr das?« Der Förster trank noch ein Glas. Es ist eine verdammte Aufgabe, einer Frau beizubringen, daß sie ihren Mann nie wiedersieht. Daß er drunten in einem See liegt, der über vierzig Meter tief ist, und man warten muß, bis die Leiche von selbst hochkommt, denn wie und wo soll man suchen? »Was haben Sie unternommen, Hiemeyer?«
Der Polizeimeister starrte auf den Mantel und den Hut. Er zuckte mit den Schultern. »Noch nichts. Ich wollte erst die Fundgegenstände hierherbringen. Wenn ich von hier aus das Kommissariat anrufen könnte …«
Luise wußte, was sie erwartete, als der Förster sie unterfaßte und bat, mitzukommen. Sie hatte keine Tränen, als sie vor dem Wettermantel stand und den Hut in den Händen drehte. Es gibt einen Grad von Schmerz, wo Tränen gefrieren.
»Wo … wo ist er?« fragte sie kaum hörbar.
»Sind es die Sachen Ihres Mannes?« fragte Polizeimeister Hiemeyer. Er fand es albern, so amtlich zu sein, aber es mußte sein wegen der Identifizierung.
»Ja.«
»Sie lagen am Seeufer. Am Steilhang. Es … es kann ein Unfall sein. Ihr Mann hat sich ins Gras gesetzt, nahe an die Böschung, er hat sich vielleicht sogar auf den Mantel gesetzt, weil das Gras noch naß war vom Tau, dann wollte er aufstehen, rutschte aus und …«
»So wird es gewesen sein«, sagte
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