Das Schloß der blauen Vögel
nach zehnjähriger Verschollenheit konnte eine Todeserklärung beantragt werden.
»Es geht nicht!« sagte der Oberstaatsanwalt, der von den Anwälten gedrängt wurde, die Akten zu schließen. »Und wenn wir am See alles gefunden hätten, sogar die Unterhose … das ist alles kein Beweis! Ich brauche den Leichnam … oder wir müssen zehn Jahre warten. Es steht Ihnen frei, einen Ausnahmeantrag beim Justizminister zu stellen. Aber ich sage es Ihnen gleich: Es wäre sinnlos. Ich könnte in meinem Bericht diesen Antrag nicht befürworten.«
So blieb also Gerd Sassner amtlich am Leben. Die Anwälte schimpften über die Sturheit der Behörden, die Versicherungen waren glücklich, denn ohne Totenschein brauchten sie die Lebensversicherung nicht auszuzahlen. Und das waren bei Sassner immerhin hunderttausend Mark. Bei Unfall sogar zweihunderttausend Mark. Man war noch einmal davongekommen. Das Geld ruhte zinslos zehn Jahre auf dem Konto. Und nach zehn Jahren würde man das amtliche Zeugnis der Todeserklärung anfechten. Bei hunderttausend Mark lohnte es sich immer, Schwierigkeiten zu machen.
Ungefähr zehn Tage nach Sassners Verschwinden besuchten Dr. Keller und Angela Dorian die noch immer wie versteinert wirkende Luise Sassner. Dr. Keller hatte sich Urlaub genommen. Auf Hohenschwandt hatte es wieder einen Zusammenstoß zwischen ihm und Dr. Kamphusen gegeben. Kamphusen hatte die Medikamente, die Keller zwei Kranken verordnet hatte, Blödsinn genannt und andere Mittel gegeben. Es war zum hellen Krach gekommen, und Angela hatte vorgeschlagen, Urlaub zu machen und wegzufahren, bis Dorian sich entschlossen hatte, sich von Kamphusen zu trennen.
»Wie es mir geht?« sagte Luise und sah an Dr. Keller vorbei in den parkähnlichen Garten. »Sie sehen es, Doktor … ich lebe in der Erinnerung.«
»Sie sollten den Mut nicht aufgeben.« Dr. Keller drehte nervös ein kleines Notizbuch zwischen den Fingern.
»Welchen Mut? Jede Pflanze geht ein, wenn sie nur im Schatten stehen muß. Um mich herum ist jetzt Schatten.«
»Darf ich frei sprechen, gnädige Frau?«
»Bitte.« Luise sah den jungen Arzt verwundert an. Dann zuckte es plötzlich über ihr schönes Gesicht. »Wissen Sie mehr? Können Sie mir etwas über Gerd sagen?«
»Nein. Es sind nur Vermutungen.« Dr. Keller klappte sein kleines Notizbuch auf. »Ich habe mir einige Merkwürdigkeiten notiert. Ihr Gatte geht nachts weg und nimmt sein Rasierzeug mit. Am See findet man seinen Mantel, seinen Hut, sonst nichts. Im See ist kein Leichnam, aber auch nicht das, was er mitgenommen hat. Die Staatsanwaltschaft hat mittlerweile mit einer Art Radar und Echolot den Seegrund abgesucht. Man hat nichts gefunden!«
»Mein Gott!« Luise preßte die Fäuste gegen den Mund. Ihr Körper schwankte im Sitzen. »Soll das heißen …«
»Ich habe die feste Überzeugung, daß Ihr Gatte lebt.«
»Aber wo? Und warum ist er fort? Warum meldet er sich nicht?«
»Hatte er Geld bei sich?«
»Ich weiß nicht. Aber ich nehme es an. Wir wollten doch Urlaub machen. Er nahm dann immer einige tausend Mark in der Brieftasche mit.«
»Und die Brieftasche ist auch verschwunden?«
»Ja. Er hatte sie ja im Jackett. Mein Gott, mein Gott …«
Luise sprang auf und lief hin und her. Ihr bleiches Gesicht verzerrte sich in tiefster seelischer Erregung. »Wenn er lebt … wenn er wirklich noch lebt … Doktor, ich habe es mir immer vorgesagt, heimlich, ganz hier drinnen, damit es niemand hört oder merkt. Er lebt, habe ich gedacht. Er kann nicht tot sein. Ich fühle es. Aber wer glaubt mir das denn? Es ist ja nur ein Gefühl, ein so starkes, unnennbares Gefühl …«
»Ich glaube, wir müssen nur die Stärke haben, warten zu können.«
Dr. Keller ergriff Luises Hände. »Nur um Ihnen das zu sagen, sind wir zu Ihnen gekommen. Sie sollen wissen, daß Sie nicht allein sind. Ich glaube, daß wir Gerd Sassner wiedersehen. Irgendwo und irgendwann wird er sich melden …«
Er wußte nicht, wie nahe er der Wahrheit war.
Er wußte vor allem nicht, wie grauenhaft diese Wahrheit war.
Er hätte sich sonst nicht gewünscht, jemals wieder von Gerd Sassner zu hören.
6
Vierzehn Tage lebte Sassner nun im ›Gasthaus zur Eiche‹. Das Schild an der Tür war ausgewechselt worden. Jetzt stand darauf:
Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen.
Ein paar Tage lang kamen noch die ehemaligen Stammgäste zu dem einsamen Waldgasthof, dann blieben auch sie weg. Es sprach sich schnell herum: Der Egon ist weg! Seine rote Hexe hat's doch
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