Das Schloß der blauen Vögel
Zimmer 19, der sich einbildete, der römische Kaiser Lucius III. zu sein. »Wissen Sie, was dieser Kamphusen zu mir sagte, als ich befahl, meine Legionen von Trier nach Köln zu verlegen? ›Legen Sie sich ins Bett, das ist besser!‹ Unerhört so etwas! Man sollte diesen Mann hinrichten lassen! Was werden Sie tun, lieber Medicus?«
»Ich werde ihn von nubischen Sklaven auspeitschen lassen, Imperator!« sagte Dr. Keller begütigend.
»Sehr gut! Sehr gut!« Lucius III. klatschte in die Hände. »Ich bin zufrieden mit Ihnen. Ich schenke Ihnen drei meiner Jünglinge.« Er schlug seine Jacke um sich wie eine Toga und ging stolz den Gang hinunter zu seinem Zimmer.
Oberschwester Adele sah ihm schweigend nach, bis die Tür vom Zimmer 19 zuklappte. »Es ist gut, daß Sie wieder da sind, Herr Doktor«, sagte sie ernst. »Die Patienten sind allesamt unruhig. Doktor Kamphusen hat ihnen gegenüber nicht den richtigen Ton.«
»Und der Chef?«
»Er operiert.« Schwester Adele hob resigniert die Schultern. »Er lebt fast nur noch zwischen den Tieren. Er hat uns vorgestern alle rufen lassen und uns etwas Schreckliches gezeigt: Zwei Schimpansengehirne hat er herausgenommen, an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und sie so außerhalb der Köpfe am Leben erhalten. Und sie reagierten. Als er in die Hände schlug, zuckten die Hirne auf den Plexiglasschalen, als er Wind nachmachte oder laut rief, pulsierte es in den Hirnarterien schneller, weil sich irgendwo in dem graublutigen Brei Äderchen durch Nervenreaktionen ausdehnten.« Sie fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und atmete tief. »Ich weiß nicht, ob ich richtig zugehört habe, vielleicht ist alles Unsinn, was ich da erzähle … aber es war schrecklich! Diese Gehirne, die weiterlebten außerhalb des Körpers … Und damit beschäftigt sich der Chef Tag und Nacht. Wie gut, daß Sie wieder da sind, Herr Doktor.«
»Ich bin nur gekommen, um zu packen, Adele.« Dr. Keller wandte den Kopf zur Seite, um nicht den entsetzten Blick der Oberschwester zu sehen.
»Das können Sie uns nicht antun, Herr Doktor!«
»Ich kann mit Kamphusen nicht länger zusammenarbeiten.«
»Dann soll doch er gehen!«
»Das will wieder der Chef nicht.«
»Wenn es so ist, dann gehen wir alle.« Oberschwester Adele zupfte nervös an ihrer Schürze. »Jawohl, dann gehen wir alle!«
»Und die Kranken, Adele?«
»Sie gehen doch auch, ohne danach zu fragen …«
»Ich bin nur einer. Man wird mich kaum vermissen.«
»Sie sind der Liebling der Kranken und des Pflegepersonals … das muß man Ihnen einmal sagen«, erklärte Schwester Adele resolut. »Sie brauchen deswegen nicht gleich eitel zu werden, Herr Doktor, aber es ist so! Keiner von uns würde verstehen, wenn Sie weggingen! Oder haben Sie Angst?«
»Angst? Vor wem?« Betroffen wandte sich Keller um.
»Vor Doktor Kamphusen …«
»Aber Schwester Adele!«
»Wenn Sie gehen, werden alle Sie feig nennen! Es wäre für uns alle eine maßlose Enttäuschung. Sie sind doch nicht feig?«
»Nein. Ich bin nicht feig.« Dr. Keller legte den Arm um die molligen Schultern der Oberschwester Adele. Sie hätte seine Mutter sein können, und vielleicht hätte seine Mutter auch so zu ihm gesprochen: Junge, beiß die Zähne zusammen. Sei der Stärkere! Du weißt doch, was du kannst. Wo ist dein Selbstvertrauen? »Schönen Dank für die Ohrfeige, Adele.«
»Ich glaube, sie war nötig!« Schwester Adele sah an Dr. Keller empor. Er überragte sie um zwei Haupteslängen. »Bleiben Sie nun, Herr Doktor?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Dann ist es gut. Wenn Sie keine klare, Antwort wissen, ist noch nichts verloren. Junger Wein muß gären.«
Zufrieden ging Oberschwester Adele in das nächste Zimmer. Dort lag die kleine Schneiderin, die beleidigende Briefe an de Gaulle geschrieben hatte und jeden Tag fleißig neue Briefe schrieb. An Königin Sirikit, an den Genossen Kossygin in Moskau, an den Schah von Persien, an Mosche Dayan in Israel …
Nachdem Dr. Keller von Zimmer zu Zimmer gegangen war und alle Patienten begrüßt hatte, überwand er sich und ging hinüber in den ›Tierbau‹.
Professor Dorian war im OP und operierte unter Klinikbedingungen einen Orang-Utan. Dr. Kamphusen assistierte und pfiff sofort Dr. Keller an, als dieser die Tür aufriß.
»Hinaus! Sie sind nicht steril! Sehen Sie nicht die rote Lampe über der Tür?«
Ohne Antwort betrat Dr. Keller den Tier-OP und stellte sich neben Dorian. Der Professor war gerade dabei, mit einem
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