Das Schloß der blauen Vögel
Liebesdurstige von ihrem Drang erlösen.
Handelsvertreter Hannes aus Paderborn, der sittenstrengen Stadt mit Erzbischof, griff in die Brusttasche, holte seine Brieftasche hervor und stellte fest, daß er sich einen Spaß für fünfzig Mark Höchstsumme leisten konnte. Er hatte auf seiner Tour Spesen herausgewirtschaftet, und wie konnte man sie besser anlegen als in Sachen, die das alternde Herz erfreuen?
Mit etwas steifen Beinen stieg Hannes aus seinem Wagen, ging die paar Schritte zu dem kleinen Auto und klopfte an die Scheibe. »Hallo, Puppe!« sagte er dabei. »Wach auf! Kundschaft. Die Nacht fängt ja erst an für dich!«
Da die Puppe im Auto nicht antwortete, drückte Hannes die Türklinke herunter und steckte den Kopf in den Wagen.
Was er sah, war zuviel für sein krankes Herz. Er wollte schreien, aber es war nur ein jaulendes Japsen. Dann sank er neben dem Wagen ohnmächtig auf den Splitt, der den Rastplatz bedeckte.
Zwanzig Minuten später war die Polizei da und sperrte den Rastplatz ab. Im Blitzlicht des Polizeifotografen leuchtete fahl das Gesicht der Frau auf. Karl Hannes hockte im Unfallbus und schüttelte sich in einem Weinkrampf.
Die schrecklich verstümmelte Leiche Magda Hendles war gefunden, und Professor Dorian erhielt wieder einen Brief aus Basel mit der Anrede: »Lieber Kollege …«
Es war ein Brief, der das Grauen lehrte … Der Brief traf in Hohenschwandt ein, als Professor Dorian gerade Visite machte.
Diese Chefvisiten, morgens um elf Uhr, waren die großen Minuten der Kranken. Dorian raste nicht wie andere Klinikchefs durch die Zimmer, begrüßte jeden Patienten mit einem Witz, klopfte ihm auf die Schulter, sagte: »Na schön, ich höre, es geht Ihnen gut. Nur weiter so. Bald sind wir gesund. Sie kennen doch den Witz von dem Hund, der auf drei Beinen läuft? ›Was wollt ihr?‹ sagte er, als man ihn bedauerte. ›Auf drei Beinen laufe ich, und beim vierten spare ich mir das Hochheben am Baum!‹ Haha!« Nein, so war Dorian nicht. Er kannte jeden Kranken genau, er unterhielt sich mit ihnen, er saß am Bett oder am Tisch und diskutierte mit ihnen über ihre Probleme.
Da war der Bauunternehmer Jakob. Vor neun Monaten lieferte man ihn ein, weil er Tag und Nacht leise Stimmen hörte, die ihm zuflüsterten: »Du bist ein Auserwählter Gottes! Du kannst die Menschheit erlösen vom Wahn der gegenseitigen Ausrottung. Predige! Predige! Die Menschheit wartet auf dich …«
Dieser Erlösungswahn wurde so stark, daß er sich die Haare nicht mehr schnitt, sich in Bettücher wickelte, mit nackten Füßen herumlief und schließlich auf dem Marktplatz von Ebbenrode Samstag um zehn Uhr, als die Hausfrauen an den Ständen einkauften, auf eine Kiste stieg und zu predigen begann mit den Worten: »Ihr schön bemalten Huren …«
Die Polizei führte ihn ab. Man steckte ihn in die Landesheilanstalt, wo er im Eßsaal weiter predigte, bis die Familie beschloß, in den sauren Apfel des Geldausgebens zu beißen, und Fritz Jakob nach Hohenschwandt brachte. Hier wurde er ruhiger. Nur bei Vollmond brach sein Messiasbewußtsein wieder aus. Dann ging er von Zimmer zu Zimmer, verteilte Zettel, auf denen stand: ›Du bist ein Rindvieh – erkenne es!‹, und segnete dann den Empfänger. Er war harmlos.
Und da war der Oberlehrer Gustav Zicke aus Meerbronn, ein stiller, vornehmer Mann mit Goldbrille, der gern Schach spielte und auf seiner Violine Mozart intonierte. Auf den ersten Blick sah man ihm den geistig Kranken nicht an; erst wenn er zu dozieren begann, fiel man in Erstaunen. Er sagte zum Beispiel: »Daß Napoleon bei Waterloo verlor, daran war nur der Wind schuld. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Ihr Kinderlein kommet. Kommen und gehen. Geht weg, ihr schwankenden Gestalten! Groß die Gestalt und klein der Geist! O Geist, den ich meine. O Freiheit, die mir fehlt. Nur der Freiheit gehört unser Leben! Leben für Millionen! Seid umschlungen, Millionen …«
Das hörte sich zwar an wie eine Stelle aus dem Roman eines von der Literaturkritik gefeierten modernen Schriftstellers, war aber trotzdem irr. Oberlehrer Zicke konnte stundenlang so reden … dann versank er wieder in Schweigsamkeit, spielte Schach mit einem Fabrikanten, der sich einbildete, man wolle ihn vergiften, oder strich auf seiner Geige Mozart und Paganini herunter.
Bei allen diesen Kranken blieb Dorian ein paar Minuten sitzen und unterhielt sich, als seien sie vernünftige Menschen. Die Patienten merkten es genau. »Der Professor ist unser
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