Das Schloss der tausend Sünden
Erscheinung, die sie jetzt vor sich hatte. Er war nicht groß, aber sein Körper sah stark und robust aus. Und sein Gang war genauso aristokratisch wie sein Titel.
«Sind das alles Vorfahren von Ihnen?», erkundigte sich Belinda und zeigte auf die Porträts.
André wandte sich um und warf ihr einen etwas schrägen, merkwürdig abschätzenden Blick zu, den sie nicht recht einordnen konnte. «Ja, das sind alle von Kastels», bestätigte er ihre Vermutung, doch in seiner Stimme lag etwas genauso Undurchsichtiges wie in seinem Blick – fast als würde er ihr eine Lüge auftischen.
Da ihre Erkundungen sie bisher eher in den oberen und nicht in den unteren Teil des Hauses geführt hatten, war dies das erste Mal, dass Belinda die riesige Bibliothek des Sedgewick-Klosters betrat. Der Raum war ganz und gar im gotischen Stil gehalten. Die edle Einrichtung hätte leicht düster wirken können, erzeugte hier aber einen sehr einladenden Eindruck. Eine weitere Überraschung war das große Feuer, das trotz der warmen Jahreszeit im Kamin brannte. Die orangeroten Flammen warfen ein fröhliches,tanzendes Licht auf die glänzende Holzvertäfelung und die Glasvitrinen vor den großen Bücherregalen. In einer Ecke stand eine vollständige Ritterrüstung, und auf mehreren Tischen und Anrichten verteilt standen Erinnerungsstücke, die über die Jahrhunderte von den zahlreichen Familienmitgliedern gesammelt worden waren. Einige von den Gegenständen muteten recht seltsam an. Auf einem mit Messing verzierten Mahagonisekretär stand ein Glasgefäß mit einem ausgestopften Tier, das Belinda beim besten Willen nicht einordnen konnte. Es schien halb Echse, halb Wolf zu sein und jagte ihr Schauer der Angst über den Rücken. Wie konnte sich jemand so etwas nur hinstellen? Sie nahm an, dass ein Mitglied der blauäugigen Kastel-Familie es wohl irgendwann gejagt und erlegt haben musste.
Über dem Kamin hingen zwei wunderschöne, über Kreuz gehängte Schwerter, bei denen es sich aber nicht um die typischen Rapiere oder Fechtdegen handelte, die man von einer kontinentalen Familie erwartete, sondern um Katanas – lange und scharfe japanische Kampfschwerter.
Ein Mitglied der Kastel-Familie war ganz offensichtlich ein wagemutiger Weltenbummler gewesen und hatte diese tödlichen Souvenirs aus dem Land der aufgehenden Sonne mitgebracht.
«Bevorzugen Sie weißen oder roten Wein?», erkundigte sich Graf André. Er stand vor einer mit Intarsien verzierten Anrichte und zeigte auf eine große Ansammlung von Flaschen.
«Weiß, bitte», erwiderte Belinda und hoffte, dass sich irgendwo in dieser Bibliothek ein Weinkühler befand. Sie war zwar kein Connoisseur, hasste aber warmen Wein.
«Eine gute Wahl», lobte der junge Mann und warf ihr einen weiteren seiner merkwürdigen Blicke zu – fast als würde er Worten lauschen, die sie selbst gar nicht hörte.
Während er sich umdrehte und sich mit dem Entkorken der Weinflasche beschäftigte, nutzte Belinda diese Gelegenheit, um ihn außerhalb der Reichweite seiner blauen Augen eingehend zu betrachten.
Seine Haltung war elegant, und die kleinen Bewegungen, mit denen er die Flasche öffnete, waren sparsam und ökonomisch. Er erinnerte sie sehr an die Art Mann, die sie aus Kostümfilmen kannte. Sicher und höflich, aber kein Geck oder Casanova. Ihr Gastgeber hatte trotz der Stiefel und der modernen Hose etwas Klassisches an sich. Die Jeans passte ihm ausgezeichnet, und Belinda genoss den Anblick der festen Konturen seines Hinterteils und der muskulösen Schenkel, die sich unter dem Stoff abzeichneten.
Es war schon ein bisschen merkwürdig, dass sie seinen Körper jetzt beurteilte, wo sie ihn doch schon splitternackt gesehen hatte. Doch in gewisser Weise sah Belinda jetzt einen anderen Mann. Der André auf dem Bett hatte fiebrig, ja fast schwach gewirkt, so als leide er an einer schweren, langwierigen Krankheit. Doch der Mann, der jetzt vor ihr stand, strotzte nur so vor Gesundheit. Die Müdigkeit, die sie noch vor ein paar Minuten bei ihm zu spüren gemeint hatte, war völlig verschwunden und einer strahlenden Stärke gewichen. Es war, als hätte er eine Art Aura um sich, die sie über alle Maßen provozierte. Die junge Frau presste die Augen zusammen, um sie so vielleicht sehen zu können, aber er blieb auch jetzt einfach nur ein gesunder, attraktiver Mann.
Von dem großen Brokatsofa, auf dem sie saß, hatte Belinda nicht nur einen guten Blick auf sein Profil, sie beobachtete auch, wie er plötzlich die
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