Das Schloss der tausend Sünden
konnte sie tun? Sie saß in der Falle.
«Benötigen Sie vielleicht das hier?», fragte der junge Mann, nahm den schwarzen Kimono vom Stuhl und brachte ihn zur ihr hinüber. Trotz der recht schweren Stiefel waren seine Schritte auf dem dicken Perserteppich nicht zu hören, während er sich seinen Weg durch die verstreuten Kleidungsstücke bahnte.
Belinda streckte ihm den Arm in Erwartung des Morgenmantels entgegen, doch ihr Gastgeber blieb mit unschuldigem Blick auf seinem merkwürdig fahlen Gesicht zwei Meter vor ihr stehen.
Dieser Mistkerl! Er will, dass ich aus dem Bett steige!, dachte die junge Frau wütend. Na schön, wie du willst, sagte sie zu sich selbst und dachte an den Moment, in dem sie sich so freizügig ihres Kleides entledigt hatte. Wer immer du auch bist, du hast es nicht anders gewollt!
Belinda schlüpfte so elegant wie möglich unter der Decke hervor, drehte sich dann um und streckte die Arme hinter sich aus, um den Eindringling so aufzufordern, ihr in den Kimono zu helfen. Er kam ihrer stummen Bitte nach, ohne sie auch nur einmal zu berühren, doch als sie sich zu ihm umdrehte, grinste er frech. Gut, dass sie den Gürtel mit einem Doppelknoten verschlossen hatte.
«Der Kimono steht Ihnen ausgesprochen gut», kommentierteer und trat einen Schritt zurück, als wollte er ihre Erscheinung genauestens begutachten. Er machte den Eindruck eines sehr anspruchsvollen Kritikers – oder zumindest hielt er sich dafür. Arroganter Kerl!, dachte sie und verfluchte den Fremden erneut.
«Danke», erwiderte sie knapp. Es ließ sich nur schwer einschätzen, wie man sich in solch einer Situation verhalten sollte, und Belinda fand es etwas absurd, dass sie ihm fast unwillkürlich die Hand entgegenstreckte. «Wir wurden uns noch nicht richtig vorgestellt», sagte sie und hätte am liebsten laut losgelacht. «Ich bin Belinda Seward. Und das …», sie zeigte über ihre Schulter auf den immer noch fest schlummernden Jonathan, «… ist mein Freund, Jonathan Sumner. Wir sind Ihnen beide sehr dankbar, dass Sie uns aufgenommen haben», fügte sie hinzu und fragte sich dabei, ob der Herr des Hauses überhaupt wusste, dass er Gäste hatte.
Nur eine Sekunde später drängte sich ihr eine zweite Frage auf – eine, die sie noch mehr irritierte. Er hatte vor der Tür ihren Namen gerufen. Aber woher um alles in der Welt wusste er, wie sie hieß? Oren musste ihm einen schriftlichen Bericht über ihre Ankunft gegeben haben – wie sollte es sonst gewesen sein?
Sie spürte ein gewisses Zögern in ihrer Hand, wurde aber sogleich Opfer eines merkwürdigen Phänomens. Belinda hatte sie voller Zweifel schon etwas zurückgezogen, doch plötzlich – als führte ihr gesamter Arm ein Eigenleben – streckte sie sie ihrem Gastgeber erneut entgegen.
Dieser erwiderte ihre Vorstellung mit einer durch und durch altmodischen Reaktion, indem er die Hacken kaum hörbar zusammenschlug und ihre Hand zu den Lippen führte. Als sein Mund ihre Haut berührte, sah der junge Mann sie mit blitzenden Augen durch seine dichten dunklen Wimpern an.
«André von Kastel. Zu Ihren Diensten», murmelte er, den Mund immer noch über ihrer Hand. Sein Atem fühlte sich merkwürdig kühl an. «Willkommen in meinem Heim», fügte der Graf hinzu, als er sich wieder aufrichtete und ihre Finger mit merklichem Zögern losließ. «Oder in meinem neuen Zuhause, sollte ich vielleicht besser sagen. Ich bin in meinem Leben viel auf Reisen gewesen, und dieses Haus ist das letzte Heim von vielen.»
Seine bisher längste Rede machte Belinda bewusst, dass er mit einem ganz leichten Akzent sprach. Fast eher eine leichte Verzerrtheit in den Wortendungen. Aber das reichte schon aus, um ihr Inneres noch mehr aufzuwühlen. Wie viele Frauen hatte auch Belinda schon immer eine Schwäche für Männer vom europäischen Festland gehabt. Seien es nun Schauspieler, Sänger oder Politiker. Diese Männer hatten etwas ungemein Weltgewandtes, Formvollendetes, aber auch leicht Wildes an sich. Alles Qualitäten, die André von Kastel eindeutig im Übermaß besaß. Obwohl er lässig gekleidet war und bei genauerem Hinsehen auch noch etwas müde wirkte, war der Graf einer der eindrucksvollsten Männer, die sie je kennengelernt hatte.
Ein männliches Dornröschen, dachte sie und grinste ihn breit an. Sie wusste durchaus, dass sie sich wahrscheinlich gerade völlig zum Narren machte. Ob ich ihn geweckt habe? Bin ich die erste Frau, die er nach hundert Jahren sieht?
«Habe ich da
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