Das Schloss der tausend Sünden
sie den einzig verbliebenen Tisch ohne direkte Sonne mit ihr teilen könnte, war ihre übersinnliche Wahrnehmung in einem Maße geschärft, dass es fast schmerzte.
«Natürlich», antworte sie gespielt gleichgültig, und ihre Ahnung sollte sie nicht trügen. Nach ein paar Minuten holte ihre Tischnachbarin ihr Handy aus der Tasche.
Bei dem folgenden Gespräch bekam Isidora genau die Hinweise, die sie sich erhofft hatte. Die Einzelheiten, die sie durch ihr außergewöhnliches Hörvermögen mitbekommen hatte, ließen sie beinahe triumphierend aufschreien. Doch sie riss sich zusammen.
Er war hier! Weniger als fünfzig Kilometer entfernt! Und diese ziemlich gewöhnliche junge Frau wurde als Gast in seinem Haus erwartet. Es wurde also höchste Zeit, sich vorzustellen.
«Ist das nicht ein herrlicher Tag», sprach Isidora ihre speisende Gefährtin mit strahlendem Lächeln an. «Diesen Teil des Landes liebe ich besonders. Sie nicht auch?» Sie rückte auf der Holzbank ein bisschen näher an ihr Opfer heran. «Ich heiße übrigens Isidora. Und Sie?»
Jonathan hatte nach dem merkwürdigen Telefonat noch eine halbe Stunde geschlafen. Erst als Oren mit Sandwiches und einer Karaffe voll Saft die Bibliothek betrat, wachte er auf und sah sich verwirrt um.
Belinda, die in der Zwischenzeit in der Bibliothek herumgeschnüffelt und dabei erotische Literatur entdeckt hatte, die ihre eigenen Taten der letzten Tage als geradezu zaghaft erscheinen ließen, setzte sich neben ihn, während Oren den Lunch servierte.
«Ich hatte einen ganz seltsamen Traum», verkündete Jonathan, nachdem der blonde Diener sich diskret entfernt hatte. «Er wirkte sehr lebendig. Ich fange schon an zu zittern, wenn ich nur dran denke. Obwohl darin eigentlich gar nicht so viel passierte.»
«An was erinnerst du dich denn?» Belinda griff nach einem Sandwich und merkte sofort, dass es sich um Räucherlachs handelte – eine Delikatesse, die sie bisher nur sehr selten genossen hatte.
«Also, ich war in einem Raum, der mit Steinen eingefasst war. Irgendwie rundlich …» Er hielt inne, um von seinem eigenen Sandwich abzubeißen, und zog nach dem ersten Happen anerkennend die Augenbrauen hoch. «Es brannten überall Kerzen, denn der Raum war sehr dunkel. Vor den Fenstern hingen irgendwelche schweren Vorhänge.» Er aß das Sandwich auf. «Die sind ja großartig.»
«Aber was passierte dann in dem Traum?», erkundigte sich Belinda gespannt, denn sie erkannte in seiner Beschreibung eindeutig Andrés Turmzimmer wieder.
«Irgendjemand hielt eine Karte mit blauer Handschrift hoch, und ich musste sie laut vorlesen. Das ist alles, woran ich mich erinnere.» Er nahm drei weitere Brote und legte sie auf seinen Teller.
«Was stand denn drauf auf der Karte?»
«Keine Ahnung!», antwortete Jonathan unbekümmert zwischen zwei Bissen. «Ich erinnere mich an kein einziges Wort.»
Ich schon, dachte Belinda und aß ihr eigenes Sandwich,ohne dessen Köstlichkeit wertschätzen zu können. Sie erinnerte sich genau an den Wortlaut der Wegbeschreibung – und auch auf welch gespenstische Weise sie über Jonathans Lippen gekommen war.
Nach ihrem Lunch gingen Belinda und Jonathan auf einen Spaziergang in den Park.
Belinda sagte zwar nichts zu ihrem Freund, doch der Vorfall in der Bibliothek hatte sie schockiert. Wieder hatte André sich in ihr Leben eingemischt und dafür gesorgt, dass sie dieses Haus nicht verließen. Ihr eigentliches Vorhaben schien völlig vergessen zu sein. Das Handy war wieder tot und ließ sich offenbar nirgendwo aufladen. Sie konnten also auch Paula nicht anrufen, um einen neuen Plan zu schmieden. Die beiden waren hier gefangen, bis die Freundin auftauchte und sie erlöste.
Jonathan nahm seine Zeichensachen aus dem Mini mit, und Belinda hatte sich ein Buch aus der Bibliothek gegriffen – eines der gewagteren, die sie bereits vorher entdeckt hatte. Sie wurden von niemandem aufgehalten, als sie sich in Richtung Fluss aufmachten. Es war also anscheinend in Ordnung, dass sie auf Entdeckungsreise gingen.
«Was glaubst du, wie alt André ist?», fragte Belinda Jonathan. Sie hatten den gesamten Park durchquert und saßen jetzt auf einer Bank am Flussufer. Belinda hatte die starke Vermutung, dass dies genau der Ort war, an dem ihr Freund Feltris und Elisa bei der Liebe beobachtet hatte. Sie sagte nichts weiter dazu, lächelte aber, als sein Blick sich auf einer bestimmten Stelle festsaugte und sein Gesicht verträumte, gleichzeitig erregte Züge
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