Das Schloß
Bestreben« besteht, was etwas über das Bild aussagt, das er von sich selbst hat. Auch seine eigenen Versuche, ins Schloss zu gelangen, werden unglücklich enden, denn K. erweist sich als unfähig zu gefühlsmäßigen Bindungen, vor allem vermag er keine Liebe zu einer Frau zu empfinden. Er beurteilt die Frauen, die ihm im Dorf begegnen, unter rein pragmatischen Gesichtspunkten, danach, ob sie womöglich in der Lage sind, ihm bei der Erfüllung seiner Aufgabe zu helfen. So nähert er sich dem Schankmädchen Frieda an, weil sie die Geliebte eines Schlossbeamten ist; als sie sich daraufhin ganz ihm zuwendet, verliert sie sofort alles Verlockende für ihn. Auch der Landvermesser wird zunehmend zum gesellschaftlichen Paria, die »Aufnahme« wird ihm verweigert, er erleidet einen sozialen Abstieg, was dadurch sinnfällig gemacht wird, dass die Quartiere, die man ihm zuweist, immer ärmlicher werden. Auch wird er in körperlicher wie geistiger Hinsicht immer schwächer: Als es ihm tatsächlich gelingt, ein Gespräch mit einem Schlossbeamten herbeizuführen, schläft er bei dieser Unterredung ein.
Kafka hatte in den Monaten vor dem Beginn der Arbeit an diesem Roman bei sich selbst einen immer stärker werdenden – selbstquälerischen - Zwang zur Selbstüberprüfung, zu einer kritischen Analyse des eigenen Verhaltens festgestellt: Jeder einzelnen »Tat« folgte immer sofort die »Beobachtung«. In einer Tagebuchnotiz vom 27 . Februar 1922 , also dem Tag, an dem er den Roman in Angriff nahm, äußerte er sich dahingehend, dass von dem Schreiben ein »geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost« ausgehe, da durch es »eine höhere, keine schärfere« Art der Beobachtung geschaffen werde.
Kafka hoffte, dass die Kette der analytischen Einzelbeobachtungen – er sprach in diesem Zusammenhang von einer selbstzerstörerischen »Totschlägerreihe« – abreißen würde und er, indem er seinem Schaffensideal entsprechend den Roman, beinahe ohne bewusstes Eingreifen von seiner Seite aus, sich wie von selbst entwickeln ließ, zu einem Gesamtbild seiner Existenz, einem Begreifen seiner Lage gelangen könnte. Der Landvermesser nimmt im Verlauf der Handlung immer mehr Züge des Verfassers an – entsprechend dem Bild, das dieser gegen Ende seines Lebens von sich hatte: Um eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm eine Ausnahmestellung garantiert, verzichtet er auf das Leben unter den Menschen; manchmal erkennt er, dass er sich zu weit von der Gemeinschaft entfernt habe, und hat das Gefühl, sich in eine Region verirrt zu haben, »in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen«. Gefährlich kann der Trost, den das Schreiben spendet, deswegen sein, weil der Circulus vitiosus bestehen bleibt. Die Tätigkeit, die Kafka und K. vom Leben entfernt und der Gemeinschaft entfremdet hat, wird gewissermaßen zu ihrer eigenen Bekämpfung eingesetzt. Der Protagonist des Romans handelt wie unter einem Zwang, er vermag seinem Leben keine Wende zu geben, muss den selbstzerstörerischen Weg weiter gehen. Kafka hat sein Ende nicht dargestellt – er hat den Roman im September 1922 aufgegeben, doch sollte nach Mitteilung von Max Brod, der das Werk 1926 aus dem Nachlass seines Freundes veröffentlichte, K. schließlich an Entkräftung sterben.
Der Roman hat wie die meisten Werke Kafkas eine Vielzahl verschiedener Deutungen zur Folge gehabt, die fast alle von dem Versuch ausgehen, zu ermitteln, wofür eigentlich das Schloss ›steht‹, oder die Macht zu bestimmen, die in ihm zu Hause ist. Den Anfang machte Brod im Nachwort der Erstausgabe, in dem er in dem späteren Roman ein Gegenstück zu
Der Process
sah, das Schloss mit der göttlichen Gnade gleichsetzte und behauptete, dass somit in den beiden Werken zwei Erscheinungsformen Gottes, »Gericht und Gnade«, dargestellt seien. Es ist jedoch fraglich, ob man mit dem Versuch, »Nebel und Finsternis«, die, wie es ganz zu Beginn heißt, den Schlossberg umgeben, zu durchdringen und der Macht dort oben einen Namen zu geben, den Intentionen des Autors gerecht wird. Es scheint eher, als ob Kafka mit diesem Schloss seinem Protagonisten eine Projektionsfläche für seine Phantasievorstellungen liefern wollte, die an sich ›leer‹ ist.
Michael Müller
Aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3-476-04000-8). – © der
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