Das Schmetterlingsmädchen - Roman
das Leben zurückkehren, das sie kannte. Aber noch während sie versuchte, das Bild von daheim heraufzubeschwören und sich sogar vorzustellen, der Luftzug vom Ventilator wäre ein kühler Herbstwind, der durch ihren Garten wehte, blieben ihre Augen eine ganze Weile offen und starrten wie betäubt an die niedrige Decke.
Als ihr endlich die Augen zufielen, schlief sie eine ganze Weile. Beim Aufwachen war ihr Haar knochentrocken und das meiste davon zwischen Kissen und Kopf eingequetscht. Und sie war hungrig. Sehr hungrig. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, schnappte nach Luft und sprang aus dem Bett. Sie war schon halb angezogen, als ihr einfiel, dass sie für nichts zu spät dran war. Louise war auf dem Weg nach Philadelphia und bis morgen Nachmittag versorgt.
Sie setzte sich aufs Bett und fuhr sich durch die wirren Locken in ihrem Nacken. Diesen Abend hatte sie für sich allein, und sie konnte damit machen, was sie wollte. Zuerst einmal musste sie etwas essen.
Eine halbe Stunde später saß sie an der Theke der Imbissstube und wartete darauf, dass Floyd Smithers ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Sie wusste, dass er nur vorgab, sie nicht zu sehen; es war noch nicht Abendessenszeit, und an der Theke saßen außer ihr nur drei andere Gäste, ein älteres Pärchen und ein Geschäftsmann. Floyd eilte zwischen ihnen hin und her, bot ihnen an, Kaffee nachzuschenken, oder leerte die Aschenbecher.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, als er endlich vor ihr stand. Auf seinem Gesicht war nicht einmal die Andeutung eines Lächelns zu sehen.
»Floyd.« Sie legte die Speisekarte hin und beugte sich ein wenig vor.
Er überflog mit einem schnellen Blick das Lokal. »Hören Sie«, sagte er leise und sah dabei nur sie an. »Machen Sie mir hier bitte keinen Ärger. Es tut mir leid, okay? Glauben Sie mir, es tut mir wirklich leid. Und ich weiß, dass Sie sauer sind. Ich weiß es.«
Erst jetzt sah sie, wie müde er war und dass er bläuliche Schatten unter den Augen hatte. Auch für ihn war es eine lange Nacht gewesen.
»Ich will keinen Ärger machen«, sagte sie ruhig. »Ich will Ihnen nur etwas sagen.« Sie spähte erst über die eine, dann über die andere Schulter. Das ältere Ehepaar lachte über etwas, das nur sie anging. Niemand lauschte. Niemand zeigte Interesse. »Ich will Ihnen sagen«, fing sie noch einmal an, »dass Louise mir erzählt hat, dass Sie nicht … dass nichts passiert ist.« Sie konnte fühlen, wie ihre Wangen warm wurden. »Ich war zu streng mit Ihnen. Ein bisschen. Ich meine, Sie haben gewusst, wie jung sie ist. Sie hätten sie nicht überreden dürfen, sich heimlich aus dem Haus zu schleichen und sich mit Ihnen zu treffen.« Sie fing seinen Blick auf, registrierte seine langen Wimpern, den Hauch von Sommersprossen auf seiner Nase. »Aber danke, dass Sie sie nach Hause gebracht haben.«
Sie hatte ihn überrascht. Das erkannte sie, als sie in sein Gesicht sah und bemerkte, wie sich seine jugendlich glatte Stirn in Falten legte. Die Glocke von der Durchreiche läutete, und er drehte sich um, um die Bestellung in Empfang zu nehmen. Cora studierte erneut die Speisekarte. Ihr Blick blieb an der detaillierten Beschreibung eines Gerichtes hängen, das sich Megasandwich nannte. Dünne Scheiben Roastbeef. Schweizer Käse. Spezialmischung aus Kräutern und Gewürzen. Frisch gebackenes Brot.
Floyd tauchte wieder auf. Sein Gesicht wirkte nicht mehr ganz so angespannt.
»Nur damit Sie es wissen«, flüsterte er, »ich wollte nicht, dass der Abend so verläuft.« Er klopfte mit seinem Block auf die Tischkante und ließ seinen Atem durch die Zähne entweichen. »Ich dachte, ich gehe mit ihr in irgendein Lokal für Erwachsene, verstehen Sie? Um sie zu beeindrucken. Tja, und dann war ich der Dumme, so viel steht fest. Sowie wir drin sind, behandelt sie mich wie einen kleinen Bruder, spricht andere Kerle an, von denen ein paar ganz schön … na ja, ungemütlich ausgesehen haben. Viel älter als ich, nur zu Ihrer Information, und ich konnte sie einfach nicht loseisen. Ich konnte sie nicht dazu bringen, auf mich zu hören. Ich lege einen Arm um die Schulter, und sie beißt ihn mir fast ab. Ich habe nicht gewusst, was ich machen soll.« Er blinzelte müde. »Noch nie habe ich ein Mädchen so viel trinken sehen.«
Cora hätte ihm am liebsten den Kopf getätschelt, wie bei einem ihrer Söhne, wenn sie Liebeskummer oder eine Enttäuschung gebeichtet hatten. Sie konnte sich die Szene in der Flüsterkneipe gut
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