Das Schmetterlingsmädchen - Roman
aber sie gab bei jedem Ausatmen einen leisen, pfeifenden Laut von sich. Cora verließ beruhigt das Zimmer.
In der Zeitung stand ein Artikel über den Jungen, der im Treppenhaus getötet worden war. Es war genauso passiert, wie Louise es geschildert hatte: eine Razzia in einer Schnapsbrennerei, Schwarzhändler mit Waffen, der Junge, der zum falschen Zeitpunkt im Treppenhaus gewesen war. Der Polizeichef äußerte sein Bedauern darüber, dass ein Unschuldiger, ein dreizehnjähriger Junge, durch gewalttätige Kriminelle sein Leben verloren hatte. Einige Verdächtige waren festgenommen und wegen Totschlages und illegaler Herstellung von Alkohol angezeigt worden, da mehrere Fässer Gin gefunden und zerstört worden waren. Die Mutter des Opfers sagte, dass ihr Sohn ein guter Junge gewesen war, der nie Ärger gemacht hatte, und es gab ein Foto von der Treppe, wie sie gerade von einem Mann mit grimmigem Gesicht, laut Untertitel der Onkel des Opfers, aufgewischt wurde.
Cora legte ihre Handfläche auf das Bild, erst behutsam, dann fester, als wollte sie es auslöschen. Weil sie irgendeine Beschäftigung brauchte, die keinen Lärm machte und Louise nicht beim Schlafen störte, las sie die ganze Zeitung von vorn bis hinten durch. Zu Hause las sie regelmäßig die Zeitung, und seit sie in New York war, die Times . An diesem Morgen fiel ihr das willkürliche Nebeneinander von banalen Geschichten und ernsteren Themen auf. Babe Ruth hatte zum zweiten Mal an einem Tag drei Homeruns geschafft. Eine einundzwanzigjährige Krankenschwester in Rochester war aus dem Fenster in den Tod gesprungen, weil sie laut ihren Mitbewohnerinnen nicht wusste, wie sie ihrem Verlobten beibringen sollte, dass sie nicht heiraten konnten: Einer ihrer Elternteile war zur Hälfte schwarz. In Las Vegas wurde die Scheidung eines Filmstars vollzogen. In Deutschland war der Außenminister, ein Jude, vor seinem Haus erschossen worden, und eine radikale Gruppe drohte, weitere Juden in wichtigen Positionen zu töten. In Brooklyn wurde die Errichtung von zweitausend Parkplätzen für Coney Island geplant. Armenier wurden verfolgt und ausgehungert. Präsident Harding verkündete seinen Vorsatz, der Kohlenkrise ein Ende zu machen. Die Textilarbeiter streikten. In Georgia war es zu einem weiteren Lynchmord gekommen, diesmal an einem fünfzehnjährigen Jungen. Zu den heitereren Themen zählte, dass Röcke, die Knie zeigten, aus der Mode kamen und die Säume wieder nach unten rutschten und daher im ganzen Land Eltern, Geistliche und Lehrer einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausstießen, weil Moral wieder an Wert gewann.
Cora lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte auf die blassgelben Wände des Vorderzimmers, die jetzt im Sonnenlicht hell strahlten, und das Bild der Siamkatze. Ihre Kiefer waren aufeinandergepresst, ihre Hände zu Fäusten geballt. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre sie immer noch nur traurig oder enttäuscht. Sie musste zweimal aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen.
Viertel vor neun ging sie ins Schlafzimmer und zog langsam den Vorhang zurück. Sie zuckte zusammen, als die Haken quietschend über die Stange rutschten. Louise drehte sich vom Fenster weg und zog sich das Leintuch über den Kopf.
»Louise?« Cora stellte sich neben Louises Bettseite. »Es wird Zeit. Wenn du in den Unterricht willst, musst du jetzt aufstehen. Du musst aufstehen und dich anziehen. Und für Philadelphia packen.«
Kein Laut. Aber die dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Im Nebenzimmer gibt es Tee und etwas zum Frühstück.« Sie wartete. »Louise? Wenn du schlafen willst, dann schlaf ruhig. Das überlasse ich dir. Aber wenn du zu spät kommst, wirst du nicht nach Philadelphia mitfahren. Und vielleicht auch nicht in die Truppe aufgenommen.«
Das Leintuch wanderte ein paar Zentimeter nach unten. Louise starrte Cora aus wässrigen, rot geränderten Augen trübe an. Aber sie war wach und konnte Entscheidungen treffen. Damit gab sich Cora zufrieden und ging in die Küche. Sie goss den abgekühlten Tee, den sie vorher aufgebrüht hatte, in zwei Gläser, schob vier Scheiben Brot ins Backrohr und fing an, eine Orange zu schälen. Nach einer Weile hörte sie Louise im Badezimmer herumgehen, hörte Wasser laufen, Gurgeln und Ausspucken. Cora trug ihre Teller und Gläser ins Vorderzimmer und deckte den Tisch. Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie weg. Jetzt brauchte sie keine Ablenkung mehr.
Cora setzte sich an den Tisch und aß ihre
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