Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
Vom Netzwerk:
Myra. Ein Trauerspiel von Mutter. Und Leonard ein blinder und viel beschäftigter Vater. Louise war hier das wahre Waisenkind. Cora hatte die Kaufmanns gehabt.
    Louise legte ihr Messer auf den Tisch und ließ es zerstreut kreisen wie einen Uhrzeiger. »Haben Sie ernst gemeint, was Sie gerade gesagt haben? Dass Sie Miss Ruth wirklich nichts von gestern Abend erzählen?«
    »Ja.«
    Louise starrte auf ihren Teller und den unberührten Toast. Sie sah zu verwirrt aus, um dankbar zu sein. »Gut«, sagte sie schließlich. »Dann gehe ich zum Unterricht. Ich werde jetzt gleich packen.« Sie schob ihren Teller weg. »Ich kann das nicht essen. Tut mir leid.«
    »Du solltest es wenigstens versuchen. Iss die Orange. Du hast fünf Stunden Unterricht. Und danach sitzt du im Bus.«
    »Ich könnte es nicht bei mir behalten.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
    Cora hob ihre Hand. Louise starrte sie aus verquollenen Augen an und hielt sich an der Rückenlehne des Stuhles fest. »Ja?«
    »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Cora.
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Darum geht es nicht, Louise. Ich mache mir Sorgen um dich.«
    Sie sagte es nicht, um das letzte Wort zu haben, aber dieses eine Mal war es ihr vergönnt. Louise brachte nur ein leises Lachen zustande, bevor sie sich umdrehte und aus dem Zimmer ging.
    Den Weg zur Schule legten sie fast schweigend zurück. Louise ging trotz ihrer hohen Absätze erstaunlich schwungvoll, die Reisetasche lässig über der Schulter baumelnd. Aber sie ging auf Coras Vorschlag ein, unterwegs eine Packung Aspirin und einen Apfel für die Fahrt zu kaufen. Als sie die Stufen zum Studio hinunterstiegen, war ihr nicht anzumerken, dass ihr außer einer Nacht Schlaf irgendetwas fehlte. Sie lächelte Ted Shawn an und wünschte St. Denis fröhlich einen guten Morgen, als sie aus dem Umkleideraum kam. Trotzdem blieb Cora noch eine Weile, um das Aufwärmtraining zu beobachten. Etwaige Bedenken waren bald zerstreut: Louises Bewegungen waren elegant und präzise wie immer, und als sie irgendwann Coras Blick im Spiegel auffing, lag Verdruss, wenn nicht ein noch stärkeres Gefühl in ihren Augen. Cora erkannte, dass ihre Anwesenheit unerwünscht war, und ging.
    Der Rückweg zum Apartment kam ihr besonders lang und heiß vor. Sowie sie oben war, ließ sie sich ein lauwarmes Bad ein. Ihr Haar musste nicht gewaschen werden, aber als sie erst einmal in der Wanne lag, ließ sie ihren Kopf unter das handwarme Wasser gleiten, sodass sich ihre Locken fächerförmig und schwerelos um ihren Kopf ausbreiteten. Endlich allein, brach der fragile Damm, und sie fing an zu weinen. Ihre Hand wanderte ihren Nacken hinauf, ihre Finger zeichneten die Linie des Haaransatzes nach. Bald, schon in wenigen Tagen, würde sie wieder zu Hause sein und ihr wirkliches Leben wieder aufnehmen. Und was hatte sie erreicht? Was Louise betraf, gar nichts. Und bei ihr sah es auch nicht besser aus. Sie war mit der Hoffnung gekommen, dass es sie zufriedener machen oder ihr zeigen würde, wie sie in Zukunft zufriedener sein könnte, wenn sie ihre Mutter oder ihren Vater fand oder etwas über die beiden erfuhr. Sie war immer davon ausgegangen, dass dieser erste, nicht erinnerte Verlust, noch bevor sie in den Zug gesetzt wurde, die Wurzel ihres Kummers war. Aber vielleicht unterschied sie sich nicht von Menschen, die zusammen mit ihren Geschwistern bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen waren und denselben Namen trugen. Vielleicht war ihr Status als Waisenkind bloß ein Vorwand. Denn jetzt kannte sie den Namen ihrer Mutter und den Namen ihres Vaters, wusste alles, was sie wissen musste, und fühlte sich kein bisschen anders.
    Sie hatte Louise so sehr beneidet.
    Als sie mit tropfnassem Haar aus der Wanne stieg, zog sie im Schlafzimmer die Vorhänge zu und stellte den Ventilator an, nicht nur wegen der Abkühlung, sondern weil sein Surren die Geräusche, die durchs Fenster drangen, dämpfte, das Aufheulen der Motoren und die Fehlzündungen unten auf der Straße. Sie legte sich nackt und vom Bad erfrischt hin und bemühte sich nach Kräften, innerlich zur Ruhe zu kommen. Sie musste schlafen, musste all die Stunden nachholen, die ihr fehlten, und deshalb versuchte sie, an ihre Terrasse in Wichita zu denken. Schon in einer Woche würde sie mit Alan auf der Schaukel sitzen, Limonade trinken und die mächtige Eiche in ihrem Garten betrachten und Nachbarn zuwinken, die vorbeifuhren oder -spazierten. Sie würde tun, was sie immer getan hatte, und in

Weitere Kostenlose Bücher