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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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beschuldigt, sie gestohlen zu haben. Er versuchte, gebrauchte Möbel zu kaufen, und wurde erneut des Diebstahles bezichtigt. Die Oboe trillerte. Das Klavier klimperte. Cora hörte, wie ringsum die Zuschauer lachten. Jeder verstand den Witz – Keaton war dazu verdammt, für einen Kriminellen gehalten zu werden, egal, was er machte. Der Pianist schlug dramatischere Töne an, als Keaton, der sich gerade eine Zigarette anzündete, versehentlich die Bombe eines Anarchisten in eine Polizeiparade warf. Der Oboist steuerte eine schmissige Melodie bei, als die gesamte Polizeitruppe Jagd auf Keaton machte. Cora war still und ruhig. Ihr war klar, dass der Film lustig war und dass sie an einem anderen Abend vielleicht gelacht hätte.
    Sie nahm es viel zu ernst, und ihre düstere Stimmung senkte sich auf alles, auch auf Dinge, die unbeschwert und lustig sein sollten.
    Am Ende des Kurzfilmes gelang es Keaton irgendwie, sämtliche Polizisten ins Gefängnis zu treiben, dort einzusperren und als der freie Mann, der er war, zu gehen. Ein gutes Ende, fand Cora. Aber es sollte nicht sein. Ein hübsches Mädchen warf ihm einen missbilligenden Blick zu, und mehr brauchte es nicht, damit Keaton die Tür aufschloss und seine irregeleiteten Verfolger freiließ. Die befreiten Polizisten schubsten ihn in eine Zelle und sperrten ihn ein.
    Das Wort »Ende« war in einen Grabstein gemeißelt. Die Leute lachten, schlugen sich auf die Schenkel und grölten nach mehr, während Cora, froh über die Dunkelheit, bedrückt auf die Leinwand starrte.
    Es war ein Fußweg von mehr als zwei Stunden. Sie hätte die U-Bahn nehmen können, aber als sie losging, sagte sie sich, dass sie nur einen Spaziergang machen wollte. Das war gar nicht so abwegig. Der Himmel war immer noch hell, und als sie die Fünfundsiebzigste Straße überquerte, war die Luft so kühl und still, dass sie eine Mücke an ihrem Ohr summen hörte, bevor sie den Stich im Nacken spürte. Mittlerweile war ihr bewusst, dass sie in eine bestimmte Richtung ging und ein Ziel vor Augen hatte. Sie ging schnell, passte sich dem Tempo auf dem Bürgersteig an, den zielstrebigen Passanten New Yorks. Einen Block nach dem anderen, ein Gebäude nach dem anderen, eine Straße nach der anderen ließ sie hinter sich, und dabei nahm sie die zunehmende Dunkelheit des Sommerabends wahr, die heiße, windstille Luft, die Blasen, die sich an ihren Fersen bildeten, und vor allem die Art, wie sie sich bewegte, endlich entspannt und von einer Einsicht getrieben, die so klar und neu und eindringlich war, dass sie sich wie Freude anfühlte.
    Sie zielte mit den Kieselsteinen auf das Fenster im ersten Stock neben der Tür, auf die er gezeigt hatte. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie warf einen Stein nach dem anderen über das Eisengitter des Tores, aber das Fenster war über sechs Meter entfernt, und die meisten ihrer Würfe verfehlten das Nebengebäude. Zweimal traf sie die Metalltreppe, und sie machte sich Sorgen wegen des Klirrens und wegen der Nonnen, die möglicherweise schliefen. Auf der Straße war es ruhig, nur gelegentlich knatterte ein Wagen vorbei, und die Bürgersteige waren nahezu menschenleer. Wenn jemand vorbeikam, drehte sie sich zur Straße um und versteckte die Kieselsteine hinter ihrem Rücken. Sie nickte einer Frau kurz zu, ignorierte sämtliche Männer und spähte wiederholt auf die Straße, als würde sie auf ein Taxi warten. Aber wer wusste, was die Passanten sich dachten, wenn sie sie sahen – eine Frau mittleren Alters, ohne Ehering und ohne Begleitung, die keine Tasche in der Hand hielt, sondern einfach nur auf der Straße stand? Sie spürte, wie sie immer nervöser wurde. Aber es war egal, was die anderen dachten. Das hatte sie inzwischen begriffen. Es gab keinen vernünftigen Grund, sich darum zu kümmern.
    Vor dem Fenster hingen Vorhänge, aber sie konnte Licht sehen. Sie wartete ab, ob sich etwas rührte.
    Sie zog ihren rechten Handschuh aus, um besser zielen zu können. Der nächste Stein schlug an die Tür. Neben der Tür war eine Lampe, eine einzelne Glühbirne in einer Laterne, die an dem Holzrahmen befestigt war. Insekten schwärmten, unbeeindruckt von Coras Stein, um das Licht. Ihr nächster Wurf prallte auf das schräge Dach. Es war das Korsett, das ihre Reichweite beeinträchtigte. Sie dachte daran, wie sie mit Mutter Kaufmann in der Scheune Anmut gespielt hatte, wie es manchmal schien, als hätte sie den Ring allein mit ihrer Willenskraft dazu gebracht, hoch nach oben zu

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