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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Blick. Sie ärgerte sich über sich selbst. Verglichen mit ihm war sie wie eine Stoffpuppe gewesen, zu befangen und zu unsicher, um mehr zu tun, als ihre Hände auf seine Schultern zu legen und ihm in die Augen zu sehen, und schon das hatte sie viel Willenskraft gekostet.
    Auch sie brauchte eine zweite Chance.
    Sein Zimmer war klein und ordentlich und spärlich möbliert. Vom Bett aus reichte sie mit der Hand fast an ein sauberes weißes Spülbecken mit Wasserhahn. Neben dem Becken stand ein kleiner Eisschrank auf einem Möbelstück, das nach einem Nachttisch aussah. Die ungestrichenen Wände waren bis auf zwei Latzhosen und zwei weiße Hemden, die alle an einem eigenen Nagel hingen, kahl. Aus dem Wandschrank hatte er ein Badezimmer gemacht, erklärte er – keine Badewanne, nur eine Toilette. Er hatte sie selbst eingebaut, nachdem er geholfen hatte, Toiletten für die Nonnen und die Mädchen einzubauen, und dabei etwas über Klempnerarbeiten gelernt hatte. Der Klempner war froh über seine Hilfe und sagte ihm, wo er günstig gebrauchte Rohre und eine Toilette bekommen könnte.
    »Beim ersten Mal habe ich es falsch gemacht«, sagte er. »Nicht gut genug isoliert. Das Rohr war draußen, und beim ersten Frost im Januar ist es geborsten. Total kaputt. Also habe ich es noch mal versucht und richtig gemacht.«
    Als sie mit dem Gefühl, von großer Höhe in die Tiefe zu springen, sein Zimmer betreten hatte, hatte er ihr einen der beiden Stühle an dem kleinen Tisch beim Fenster angeboten. Er hatte ihr auch Erdnüsse angeboten und sich dafür entschuldigt, dass er nichts anderes hatte. Sie versicherte ihm, dass sie nicht hungrig wäre, dass ein Glas Wasser völlig reichen würde. Auf einem Bord über der Spüle befanden sich zwei nicht zusammenpassende Gläser, zwei Teller und ein scharfes Messer. Sonntags kam seine Tochter zu ihm, sagte er. Sie aßen beide gern Sandwiches. Er kaufte Käse und Aufschnitt im Lebensmittelladen. Während der Woche gaben ihm die Nonnen das zu essen, was die Mädchen übrig ließen. Nicht schlecht. Haferbrei zum Frühstück. Erdnüsse. Brot. Sie bekamen Spenden von der Hudson Guild. Manchmal Obst und Gemüse. Die meisten Kaufleute in der Gegend waren Katholiken und den Nonnen gegenüber großzügig.
    Er fragte sie, ob sie den Brief aus Massachusetts bekommen und etwas über ihre Mutter erfahren hätte. Sie erzählte ihm kurz von dem Treffen in der Grand Central Station, von der Familie in Haverhill, die sie nie kennenlernen würde. Er stellte noch mehr Fragen, die verrieten, dass er an einem längeren Bericht interessiert war, aber sie verlor immer wieder den Faden. Erst vor Kurzem hatte sie sich so sehr gewünscht, mit ihm über Mary O’Dell zu sprechen, jemanden zu haben, dem sie sich anvertrauen konnte, aber nun, da sie hier war, nahm sie nur die Art wahr, wie er sie ansah, den goldenen Streifen in seinem rechten Auge. Und dass sie mit ihm allein in einem kleinen Zimmer war. An der Wand über dem Tisch hing ein Bücherregal, das heißt, eigentlich war es eine Reihe von Büchern auf einem langen Brett auf Metallstützen, die in die Wand geschraubt waren, mit zwei Ziegelsteinen als Buchstützen. Während sie an ihrem Wasser nippte, überflog sie die staubfreien Buchrücken. Grundregeln der drahtlosen Telegrafie. Elektrische Oszillationen und Elektrowellen. Grundkenntnisse des Englischen. Automobilmechanik, Band III. Roosevelts Briefe an seine Kinder. Einige der Titel waren auf Deutsch.
    Sie fragte ihn, ob ihm Deutschland nicht fehlte, ob er es nicht vermisste, mit Menschen zusammen zu sein, die wie er waren. Es musste leichter sein, fand sie, dort zu leben, wo die Muttersprache gesprochen wurde.
    »Manchmal.« Er stellte sein Glas Wasser auf den Tisch.
    »Fehlt dir deine Familie? Hast du Geschwister? Leben deine Eltern noch?«
    Er kratzte sich im Nacken. »War nicht so gut. Mein Bruder war schwierig. Er und mein Vater sind gleich. Meine Mutter ist tot.« Er zuckte die Achseln. »Greta ist meine Familie.«
    Cora nickte. »Ich bin froh, dass du sie hast.«
    Er lachte traurig. »Ich auch.«
    »Aber hast du je das Gefühl …« Sie versuchte, in Worte zu fassen, was sie wissen wollte. »Plagt dich nicht der Gedanke, dass du eigentlich in Deutschland sein solltest? Dort bist du geboren. Mag sein, dass deine Familie schwierig war, aber es sind deine Blutsverwandten. Deine Tochter auch, ich weiß, aber alle anderen Verwandten von dir sind dort.«
    Er schüttelte den Kopf.
    Sie dachte, dass er ihre

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