Das Schmetterlingsmädchen - Roman
würde ihre freie Stunde nutzen, sodass sie selbst auch eine volle Stunde für sich hatte. Aber sie hielt einen Moment inne, bevor sie die Tür aufmachte. Sie musste freundlich und anerkennend wirken: Louise hatte Wort gehalten.
Zu ihrer Überraschung stand nicht Louise, sondern Joseph mit ernster Miene vor ihr. Er war unrasiert, trug aber ein sauberes Hemd und saubere Latzhosen und hatte seine Mütze in eine Seitentasche gestopft. Eine große Leinentasche hing über seiner Schulter, und hinter ihm stand eine kleine Gestalt. Cora konnte sie nicht sehen, nur einen dünnen Arm, der um seine Hüften geschlungen war. Am Ende dieses Armes klammerte sich eine Hand an ein Stück Latzhose über seinem Knie.
»Wir haben das Heim verlassen«, sagte er. »Heute Morgen. Wir ziehen aus.« Seine Stimme war freundlich und unbefangen, aber in seinen Augen lag der Blick eines Erwachsenen, der einem Kind zuliebe verschlüsselt spricht. »Das musste ich dir sagen. Ich hatte Angst, du gehst zum Heim.«
Cora starrte ihn stumm an. Er war erwischt worden. Sie waren heute Morgen nicht früh genug aus dem Haus gegangen. Eine Nonne hatte sie gesehen. Oder eines der Mädchen hatte sie gesehen und darüber geredet.
»Komm doch rein.« Sie trat zur Seite und deutete auf die Wohnung. Auch sie kommunizierte mit ihren Augen. Er musste hereinkommen, sagte sie zu ihm, er und die kleine Person – sicher seine verschreckte kleine Tochter. Es tat ihr leid. Es war ihre Schuld. Das Ganze war ihre Idee gewesen. Ihr Abenteuer, ihre Freiheit in einer fremden Stadt. Und jetzt hatte er seinen Job verloren. Sein Zuhause.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich habe einen Freund in Queens.« Der Arm schloss sich enger um seinen Oberschenkel, und er musste die Beine spreizen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Jetzt arbeitet er noch, aber um fünf fahren wir zu ihm. Er ist ein guter Freund. Alles in Ordnung.«
»Komm bitte rein«, wisperte sie. »Bitte!«
Er hinkte, als hätte er ein Holzbein, weil das Kind immer noch an ihm hing. »Komm schon, Greta«, sagte er leise und versuchte, ihre Finger von seinem Bein zu lösen.
Cora, die hinter ihnen stand, konnte das Kind jetzt sehen. Ihr blonder Scheitel reichte bis zu seinem Gürtel. Sie trug ein senfbraunes Kleid, das unter den Achseln geflickt war, und hatte kinnlanges Haar. Ihr Gesicht war immer noch an seine Hüfte gepresst.
»Tut mir leid«, sagte er und drehte sich zu Cora um. »Sie ist nicht immer so schüchtern.«
»Schon gut.« Cora schloss behutsam die Tür. Auch als sie an den beiden vorbeiging, konnte sie das Gesicht des Mädchens nicht sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie es ertragen könnte. »Hast du Hunger? Ist sie hungrig? Ich habe Toast und Marmelade.«
Gretas Kopf lugte hinter ihm hervor, so plötzlich, dass Cora lächelte. Das Kind hingegen lächelte nicht. Es hatte ein hübsches Gesicht und sah seiner toten Mutter sehr ähnlich. Cora lächelte weiter, obwohl ihr das Herz wehtat. Ich war wie du, hätte sie am liebsten gesagt. Ist schon gut. Ich war genauso klein und verängstigt wie du. Sie musste sich anstrengen, sich von ihren Gefühlen nichts anmerken zu lassen. »Ich habe Erdbeermarmelade. Magst du Erdbeermarmelade?«
Greta sah fragend ihren Vater an.
»Die schmeckt dir bestimmt«, sagte er.
Cora ging in die Küche und legte sechs Scheiben Brot ins Backrohr. Sie wünschte, sie hätte etwas Besseres anzubieten, etwas Gehaltvolleres. Hatten sie heute Morgen überhaupt schon etwas gegessen? Hatten die Nonnen sie einfach vor die Tür gesetzt? Sie spähte ins Wohnzimmer. »Magst du Orangen?«
Greta nickte. Sie stand immer noch dicht bei Joseph und starrte das Bild mit der Siamkatze an. Daran wird sie sich erinnern, dachte Cora. Sie wird sich an diesen Tag des Umbruches erinnern, an die seltsamen Einzelheiten, an den Besuch bei einer fremden Dame, die mitten am Tag einen Morgenmantel trug und ihr Haar offen hatte. Das Kind würde Cora nie wiedersehen, aber Cora würde Teil der schmerzlichen Erinnerungen an diesen Tag sein, der Angst vor dem Unbekannten.
Sie legte zwei geschälte Orangen auf einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. Dann holte sie Gläser mit Wasser aus der Küche, und als sie zurückkam, hatte sich Greta schon eine halbe Orange in den Mund gestopft. Sie kaute, so schnell sie konnte, mit vollen Backen und flatternden Lidern über ihren hellen Augen. Als Cora ihr Glas Wasser abstellte, langte Greta hastig nach dem Rest der Orange und legte die
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