Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Earle war Arzt in St. Louis. Die beiden waren vor Kurzem achtunddreißig geworden. Sie war die Mutter von Söhnen, die während einer kurzen Periode des Friedens junge Männer gewesen waren.
Deshalb schöpfte sie keinen Verdacht, als Earle ihnen im Oktober 1942 mitteilte, dass er im Krankenhaus ein paar Tage freigenommen hatte, um ihnen einen spontanen Besuch in Wichita abzustatten. Er erklärte nur, dass er ein wenig Zeit mit seinen Eltern und mit Onkel Joseph und Greta verbringen wollte, die inzwischen erwachsen und selbst Mutter war. Er würde allein kommen, schrieb er, weil die Kinder zur Schule gingen und ihre Mutter natürlich abends für sie da sein musste.
Cora und Alan freuten sich trotz der Komplikationen, die der Besuch mit sich brachte, auf ihren Sohn. Sie, ebenso wie Joseph und Raymond, hatten sich daran gewöhnt, im Haus mehr Privatsphäre zu haben, seit Greta ausgezogen war, um aufs College zu gehen. Inzwischen war Greta wieder in Wichita, aber sie hatte einen Lehrer geheiratet und ein kleines Mädchen zur Welt gebracht, und sie und ihre neue Familie lebten fünf Blocks weiter in einem Bungalow. Da Greta fast nie anrief, bevor sie auf einen Sprung vorbeikam, war nach wie vor Vorsicht geboten. Aber Cora und Joseph waren nicht mehr so wachsam wie früher, als Greta noch im Haus lebte. Spät am Abend, wenn Vorder- und Hintertür abgesperrt waren, bewegten sie sich völlig unbefangen in ihren vier Wänden. Auch Raymond kam öfter, ging aber stets vor zehn Uhr nach Hause, um nicht das Misstrauen der Nachbarn zu wecken. Einige hatten Cora gegenüber gutmütige Bemerkungen über den alleinstehenden Freund der Familie gemacht und wie gütig es von Cora war, ihm ihr Heim zu öffnen und ihn an ihrem Familienleben teilhaben zu lassen.
Jene wenigen Tage mit Earle waren die Umstellung auf jeden Fall wert. Er verbrachte seine Zeit damit, durch die Stadt zu bummeln, mit Freunden von der Highschool Poker zu spielen und Howards und seine alten Lieblingsorte aufzusuchen. Aber zu Coras Freude frühstückte er jeden Morgen zu Hause, und er war wie immer sehr freundlich zu Joseph und Greta und brachte Gretas Baby zum Lachen, indem er es auf seinem Knie wippen ließ. Vielleicht war er ein bisschen schweigsamer als sonst, aber Cora dachte sich nichts dabei. Eines Abends fragte er seinen Vater, ob er nicht mit ihm einen Spaziergang am Fluss machen wollte, und Cora freute sich, als sie die beiden Seite an Seite die Straße hinuntergehen sah, Vater und Sohn, die einander so ähnlich sahen.
Erst an Earles letztem Nachmittag erfuhr sie den wahren Grund für seinen Besuch. Alan und Joseph waren bei der Arbeit, und Earle und sie waren allein im Haus. Sie saß auf der Veranda und las, und er kam zu ihr und setzte sich neben sie auf die knarrende Schaukel. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schön der Tag war, sonnig mit einer sanften Brise, die Blätter an der großen Eiche schon leicht rötlich verfärbt. Im letzten Jahr hatte es viel Regen gegeben, und die Sonnenblumen am Tor machten sich prächtig.
Cora klappte ihr Buch zu und lächelte Earle an. Er würde nicht mehr lange da sein, und lesen konnte sie immer noch. Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Das war die erste Andeutung, dass irgendetwas im Busch war. Sie beobachtete seine Augen, seinen sanften, versonnenen Blick, der so sehr an Alan erinnerte, als er ihr mit festen, offenbar einstudierten Worten mitteilte, dass in Übersee ein großer Bedarf an Ärzten herrsche und er in Zeiten wie diesen nicht länger tatenlos zuschauen könne, schon gar nicht als Chirurg. Als sie anfing, den Kopf zu schütteln, ignorierte er sie. Er und Beth hätten die Angelegenheit schon ausführlich besprochen, sagte er. Er habe sich als Truppenarzt bei der Infanterie gemeldet. In einem Monat würde er aufbrechen.
»Was ist mit deinen Kindern?« Cora presste ihre Schuhe auf die Veranda, damit das Schaukeln aufhörte, bohrte ihre Sohlen förmlich in den Boden. »Denkst du gar nicht an sie, Earle? Du bist Vater.«
Er sah sie ruhig an, als wüsste er, was sie sagen würde, als wäre ihm jedes Argument bekannt, das sie vorbringen konnte, als hätten sie dieses Gespräch schon hundert Mal geführt. »Ich habe mit meiner Familie geredet, mit Beth und auch mit den Kindern. Sie verstehen mich.«
»Verstehen sie auch, dass du sterben könntest? Sei doch vernünftig!« Sie hörte, wie ihre Stimme bebte. Sie wollte keine Flagge mit einem Stern. Trotzdem bemühte sie sich, ruhig zu bleiben. Auch sie wollte
Weitere Kostenlose Bücher