Das Schmetterlingsmädchen - Roman
vernünftig sein. »Es ist schön, dass du helfen willst«, sagte sie. »Aber das kannst du in St. Louis genauso gut. Wir brauchen auch hier im Land Ärzte. Was ist mit den Verwundeten, die nach Hause kommen? Warum kannst du nicht ihnen helfen? Wie edel ist es, Frau und Kinder zu verlassen?«
Er zuckte die Achseln. »Warum soll ausgerechnet ich bleiben, wenn so viele andere gehen müssen? Auch viele Väter.«
Sie starrten einander an. Darauf hatte sie keine Antwort. Er war ihr Kind, immer noch ihr Kind. Das war ihre einzige Antwort.
»Ich muss es einfach tun«, sagte er. »Du wirst mich nicht umstimmen, Mutter.«
Cora schloss die Augen. Das musste er ihr nicht extra sagen. Sie wusste genau, wie eigensinnig er sein konnte. Verglichen mit seinem lebhaften Bruder wirkte Earle manchmal passiv und unsicher, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass in Wirklichkeit er derjenige mit dem eisernen Willen war. Als er ein Junge war, hatte sie ihn weder mit Drohungen, Schmeicheln oder Versprechen dazu bringen können, im Winter Mütze oder Handschuhe zu tragen, und als er zehn war, war er einmal vom Dach der Veranda in einen Blätterhaufen gesprungen, obwohl sie im Garten stand und ihn anschrie, es nicht zu tun. Er war immer ein lieber und im Allgemeinen nachgiebiger Junge gewesen, aber wenn er sich einmal zu etwas entschlossen hatte, gab es kein Zurück. Als Cora einmal diese Beobachtung Alan mitteilte, sah er sie nur mit liebevollem Spott an und sagte: »Hm, wo er das wohl herhat?«
Sie wollte nicht, dass Earle jetzt wie sie war.
»Mit deinem Vater hast du schon gesprochen?«
Er nickte. »Ich hatte mir schon gedacht, dass er es mir nicht so schwer machen wird.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass er meinen Entschluss respektiert. Dass er dasselbe tun würde, wenn er jünger wäre. Vor allem, dass er mich versteht. Das bedeutet mir ungeheuer viel. Ich wünschte, du könntest genauso reagieren.«
Sie schlug sich zornig aufs Knie. Alan. Warum musste er immer so verständnisvoll sein?
»Komm schon, Mutter. Bitte. Du bist genauso schlimm wie Howard. Hör mal, ich gehe da als Arzt hin. Wahrscheinlich bekomme ich nicht einmal etwas von den Kampfhandlungen zu sehen.«
»Wo kommst du hin?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Du weißt nicht, in welches Land?« Der flammende Wipfel der Eiche verschwamm vor ihren Augen.
»Na ja, in den Pazifikraum. Das weiß ich. Ich habe ihnen gesagt, dass deine Familie aus Deutschland stammt. Und Onkel Joseph erwähnt. Ich weiß, dass er mit seiner Arbeit unsere Truppen unterstützt, aber sie hielten es trotzdem für besser, mich in den Pazifik zu schicken.«
Sie konnte nicht atmen. Sie konnte nur noch daran denken, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Earle würde sterben, irgendwo im Pazifik, und sie wäre schuld. Sie und ihre selbstsüchtige Lüge. Sie würde schuld am Tod ihres Kindes sein. Aber wäre er denn in Europa weniger gefährdet? In Nordafrika? Sie wusste es nicht.
»Hast du das deinem Vater gesagt? Warum du in den Pazifik kommst?«
Er nickte.
»Was hat er gesagt?«
»Er hält es für einleuchtend. Er glaubt, dass beide Fronten gleich gefähr … gleich sicher sind.« Er seufzte. »Hast du geheime Informationen über den Krieg, Mutter? Was hast du gegen den Pazifik? Ich habe gehört, dass die Nazis auch nicht gerade zimperlich sind.«
Sie schüttelte den Kopf. Wenn Earle in Europa oder Afrika sicherer wäre, hätte Alan ihm die Wahrheit gesagt. Das wusste sie. Aber überall starben Soldaten. Der Pazifik konnte Earles Untergang sein, vielleicht aber auch seine Rettung. Und vielleicht wäre er sowieso dorthin geschickt worden, auch ohne ihre Lüge.
Sie saßen auf der Schaukel. Cora klammerte sich mit beiden Händen an seinen Arm. Sie sahen zu, wie die Blätter im Wind erschauerten, ein paar abfielen und in den Nachbargarten wehten.
Earle lehnte sich zurück und sah sie an. »Ganz was anderes: Wusstest du, dass Louise Brooks wieder in der Stadt ist?«
Zuerst ärgerte sie sich, weil er so eindeutig versuchte, vom Thema abzulenken und sie auf andere Gedanken zu bringen, damit er es irgendwann schaffte, seinen Arm aus ihrem Griff zu befreien. Aber dann registrierte sie, was er gesagt hatte, und setzte sich kerzengerade auf.
»Sie ist wieder da? Was soll das heißen?«
»Genau das.« Er verscheuchte eine Fliege von ihrem Gesicht. »Anscheinend ist sie schon seit ein paar Jahren wieder in Wichita. Soweit ich weiß, hatte sie auf der Douglas Avenue, gleich hinter dem
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