Das Schmetterlingsmädchen - Roman
unter der Eisenbahnunterführung verschwanden, zu. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich dich vermissen werde! Aber das glaube ich kaum.«
Cora war im Begriff, ihre Hand auf den Arm des Mädchens zu legen. Mit Sicherheit stammten einige der anderen Fahrgäste aus Wichita und hatten ihr Zuhause noch nicht vergessen. Es war nicht nötig, sie vor den Kopf zu stoßen. Aber eine Ermahnung erübrigte sich, da Louise fertig mit Abschiednehmen war. Selbst als sie an den Straßen ihrer Kindheit vorbeirollten, an den quadratischen Ziegelbauten und Einfamilienhäusern, den Parks und den Kirchen, zeigte sie keinerlei Interesse. Stattdessen öffnete sie ihre Tasche und holte ihre Reiselektüre heraus, auf die Cora einen raschen, verstohlenen Blick warf: Die Juliausgabe von Harper’s Bazaar , die Juniausgabe von Vanity Fair und ein Buch mit dem Titel Die Philosophie Arthur Schopenhauers . Noch bevor sie die Stadt hinter sich ließen und gepflasterte Straßen Kieswegen und Feldern wichen, schien Louise tief in das Buch versunken. Gelegentlich legte sie es aufgeschlagen in ihren Schoß und griff nach ihrem Füller, um etwas mit blauer Tinte zu unterstreichen oder die Seiten zu markieren. Aber meistens stand das Buch in seinem nüchternen braunen Einband wie ein Wall vor ihrem Gesicht.
Auch gut, dachte Cora. Ihretwegen musste das Mädchen nicht höfliche Konversation machen. Sie hatte sich ebenfalls Lesestoff mitgebracht, den sie jetzt aus ihrer Tasche nahm. Vielleicht lagen in ihrem Salon nicht alle möglichen Bücher herum, aber auch sie wusste gute Literatur zu schätzen. Für diese Reise hatte sie das Ladies’ Home Journal und den neuen Roman von Edith Wharton mitgenommen. Normalerweise hätte sie vielleicht ihrer geheimen Schwäche für Temple Bailey nachgegeben, eine Autorin, bei der man sich darauf verlassen konnte, dass tapfere Heldinnen dick geschminkte Vamps in die Schranken verwiesen und auf Abwege geratene Ehemänner auf den Pfad der Tugend zurückführten. Aber da sie wusste, dass auf dieser Fahrt jeder Titel dem kritischen Blick des Mädchens standhalten musste und ohne Zweifel Myra gemeldet werden würde, war Cora in die Buchhandlung gegangen und hatte Zeit der Unschuld gekauft, das vor Kurzem, obwohl es von einer Frau verfasst worden war, den Pulitzer-Preis gewonnen hatte und deshalb über den Tadel selbst ärgster Snobs erhaben sein sollte. Außerdem spielte es in New York City, zwar im vergangenen Jahrhundert, aber Cora fand es trotzdem interessant, über die Stadt, die sie besuchten, zu lesen und sich vorzustellen, wie die Personen von einst durch dieselben Straßen gingen, die sie bald selbst betreten würden. Bisher gefiel ihr die Geschichte. Vor allem die historischen Details waren faszinierend, all die Kutschen und langen Gewänder. Während der Zug durch offenes Ackerland fuhr und es durch die höher steigende Sonne allmählich warm im Abteil wurde, blätterte Cora fröhlich weiter und fühlte sich klug und gebildet.
»Was lesen Sie da?«
Sie blickte auf. Louise, deren Buch im Schoß lag, starrte sie an. Ihr schwarzes Haar war selbst in der Hitze spiegelglatt.
»Nur das.« Cora schob einen Finger zwischen die Seiten und zeigte dem Mädchen den Einband. Der Himmel war heller geworden. Sie rückte ihre Hutkrempe zurecht.
»Ach so.« Louise rümpfte die Nase. »Das habe ich schon gelesen. Mutter auch.«
»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Cora, obwohl die Antwort am Gesichtsausdruck des Mädchens zu erkennen war. Die einzige Frage bestand darin, ob Louise und Myra einer Meinung gewesen waren. Vermutlich, dachte Cora.
» Haus der Freude war besser. Aber historische Romane langweilen mich meistens.« Die Stimme des Mädchens klang entschuldigend, nur eine Spur, aber genug, um Cora zu ärgern. »Es geht so furchtbar steif zu. All diese albernen Regeln und das Getue, wer zu welcher Party eingeladen wird und wer mit wem gesehen wird.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein Päckchen Kaugummi heraus. »Es ist einfach nervend und verlogen. Ich konnte nichts damit anfangen.«
»Es hat den Pulitzer-Preis gewonnen.«
»Und dieser Held – wenn man ihn so nennen kann. Er entpuppt sich als so erbärmlich, so feige.« Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und bot Cora auch einen an. Cora lehnte ab. »Er verliebt sich in Gräfin Olenska, die einzige authentische Frau in dem Buch. Aber sie kommt nicht infrage, weil sie geschieden ist. So ein Schwachsinn! Und dann heiratet er diese dämliche May
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