Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
Vom Netzwerk:
ihre Augen mit ihrer Handfläche ab, aber ihr Lächeln blieb unverändert. »Sie zu engagieren war seine Idee. Ich will bloß, dass sie fährt.«

3
    Die Union Station war vielleicht das imposanteste Gebäude in Wichita. Der Bahnhof war noch relativ neu, erst ein paar Jahre vor dem Krieg erbaut. An der Vorderfront mit dem Haupteingang befanden sich gut sieben Meter hohe Spitzbogenfenster, die von Granitsäulen flankiert wurden. Drinnen herrschte ein allgemeiner Eindruck von Weite und Großzügigkeit, und an diesem schönen Julimorgen fielen breite Streifen Sonnenlicht auf den Marmorboden. Leute, die ihre Fahrkarten und Koffer in den Händen hielten, marschierten zielstrebig durch Licht und Schatten, und ihre Schritte und Stimmen hallten in der weitläufigen Bahnhofshalle wider. Cora und Alan saßen mit Leonard Brooks auf einer der Holzbänke. Die hochlehnige Bank ähnelte einer Kirchenbank und fühlte sich auch so an. Cora saß kerzengerade auf ihrem Platz und warf gelegentlich einen Blick auf die große Wanduhr. Louise war vor zwanzig Minuten verschwunden, um die Damentoilette aufzusuchen.
    »Ihr nehmt bis Chicago den Santa-Fe-Express«, sagte Alan, der Coras Fahrkarte studierte. »Dort habt ihr zwei Stunden Zeit zum Umsteigen, was mehr als genug ist. Hoffentlich findet ihr euren Anschlusszug trotzdem gleich.« Er warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu und wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn ab. »Der Bahnhof in Chicago kann ziemlich überwältigend sein.«
    Cora, die Hände krampfhaft im Schoß verschränkt, nickte kurz. Sie war siebzehn gewesen, als sie zum ersten Mal, buchstäblich direkt von der Farm, nach Wichita kam und ihr Zug in den alten Bahnhof einfuhr, der so viel kleiner und weniger prunkvoll als der jetzige gewesen war. Aber damals hatte sie der Anblick all der Leute und des lauten Treibens, der eleganten Frauen in ihren eng taillierten Röcken und Stehkragenblusen gleichzeitig fasziniert und verstört. Noch heute war Wichita für sie eine Großstadt. Alan, der hier aufgewachsen war, nahm die vielen Menschen und die Hektik als gegeben hin, und er besuchte überall im Land Tagungen. Und jetzt erzählte er ihr, dass selbst er manchmal von Chicagos Bahnhof überwältigt war, den sie morgen in aller Frühe erreichen würde, um von dort mit ihrer jungen Schutzbefohlenen im Schlepptau in einen anderen Zug umzusteigen und in eine noch viel größere Stadt zu fahren.
    »Den Anschlusszug schafft ihr aber nur, wenn euer Zug pünktlich eintrifft.« Leonard Brooks lehnte sich zurück und zog eine Taschenuhr hervor. »Der Streik könnte den ganzen Sommer andauern. Harding sollte einschreiten.«
    Er war relativ klein, aber er hatte Persönlichkeit. Seine Augen waren eher schwarz als braun, seine Haare so dunkel wie die von Myra und Louise, und obwohl er nicht viel größer als die beiden war, vermittelte er den Eindruck, mindestens von durchschnittlicher Statur zu sein. Er hatte eine lange, spitze Nase und die Angewohnheit, auf eine Weise ins Nichts zu starren, als wäre er tief in Gedanken versunken. Laut Alan war Leonard Brooks ein sehr kluger Kopf und hatte gute Chancen, ins Richteramt berufen zu werden. Er schien von seiner Arbeit besessen zu sein. Gleich nachdem er mit Louise an seiner Seite und einem Koffer in jeder Hand in den Bahnhof gestürmt war, hatte er versucht, sich mit Alan über einen Gerichtsentscheid zur Grundsteuer zu unterhalten. Erst nachdem Alan sich betont geräuspert und einen vielsagenden Blick auf Cora geworfen hatte, schien Mr. Brooks sich daran zu erinnern, dass er sich im Moment mit ihr zu befassen hatte. Sowie er sich darauf besonnen hatte, war er ausgesprochen höflich und sagte Cora, wie froh Myra und er seien, dass sie sich um Louise kümmern würde. Aber jetzt war er beim Thema Streik gelandet und redete endlos dahin, obwohl seine Tochter, die immer noch nicht wieder aufgetaucht war, sehr bald zum ersten Mal eine lange Reise antreten und ihr Elternhaus verlassen würde.
    »Eine interessante Debatte«, sagte er und sah dabei Alan an. »Die Arbeiter haben das Recht zu streiken, aber die Menschen haben ein Recht auf zuverlässige Transportverbindungen, scheint mir.«
    »Ich schaue mal nach Louise«, sagte Cora so unbekümmert wie möglich. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie, noch bevor sie in den Zug gestiegen waren, wegen des Mädchens nervös war. Aber allmählich machte sie sich Sorgen. Cora war selbst gerade von der Damentoilette zurückgekommen, als

Weitere Kostenlose Bücher