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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Schrillen der Pfeife und das Ächzen des Getriebes. Ebenso das Schaukeln, an das sie sich am besten erinnerte. Damals wie heute war ihr fast schlecht gewesen vor Angst und vor Sehnsucht, als sie sich in schnellem Tempo auf eine andere Welt und alles Mögliche, was sie noch nicht kannte, zubewegte.

4
    Sie erinnerte sich nicht, wie das Gebäude aussah. Vielleicht hatte sie es nie von außen gesehen. Aber sie erinnerte sich an das Dach; es war flach und gekiest und lang genug, dass ein Mädchen, das an einem windigen Tag etwas von einem Ende rief, von einem Mädchen am anderen Ende nicht gehört wurde. Es war auf jeder Seite von einer gelben Ziegelmauer begrenzt, die für Cora und auch die älteren Mädchen zu hoch war, um hinüberzuschauen, selbst wenn man auf einen Stuhl stieg. An den Mauern waren Metallhaken angebracht, aber man durfte sie nicht zum Klettern benutzen. Wenn man es dennoch versuchte und erwischt wurde, dann gnade dir Gott, wie die Nonnen zu sagen pflegten. Die Haken waren da, um an ihnen die Wäscheleinen zu befestigen, die sich straff über das Dach spannten. Tauben und auch Möwen landeten manchmal auf der Mauer und fixierten Cora mit ihrem starren Blick, bevor sie sich abwandten und weiterflogen.
    Die älteren Mädchen schleppten in Körben nasse Wäsche die Treppen hinauf; an jedem Stück war ein Etikett mit dem Namen des Besitzers befestigt. Cora und die anderen jüngeren Mädchen hängten die Sachen auf und mussten sich dazu manchmal auf Stühle stellen. Sie konnte die Namen auf den Schildchen nicht lesen, aber die Nonnen hatten ihnen beigebracht, jeweils einen Korb an den Anfang jeder Reihe zu stellen, damit nichts durcheinandergeriet. Alle Sachen mussten gut befestigt werden, weil sie zahlenden Kunden gehörten. Wenn der Wind ein Paar Hosen oder einen Rock auf die Kiesfläche wehte, musste das Wäschestück noch einmal gewaschen werden, und die älteren Mädchen waren böse. Sie arbeiteten ohnehin schon hart genug. Die meisten von ihnen hatten Narben an Händen und Unterarmen, weil sie sich mit kochendem Wasser oder am Bügeleisen verbrannt hatten. Imogene, die fast vierzehn und sehr nett war, hatte Cora erlaubt, die Verbrennung auf ihrem Handrücken anzufassen. Es täte nicht mehr weh, sagte sie. Die Haut war verheilt, aber eine rotbraune herzförmige Narbe, die sich unter Coras Fingern rau anfühlte, war zurückgeblieben.
    Sonntags durften sie nach draußen, wenn sie aufpassten, dass sie im Garten nichts kaputt machten. Im Garten stand ein Baum, erinnerte Cora sich. Sie durften nicht hinaufklettern. Die älteren Mädchen saßen darunter und redeten oder flochten einander die Haare. Sie alle sprangen Seil, mit einer Wäscheleine, die in der Mitte einen Knoten hatte, um sie schwerer zu machen. Manche Mädchen spielten Blinde Kuh. Wenn es schneite, spielten sie Fuchs und Gans.
    Drinnen gab es einen Schlafsaal mit einer langen Reihe Betten. Im Winter bekam man einen Pullover und schlief darin, nicht nur weil es kalt war, sondern aus Furcht, den Pullover zu verlieren. Wenn das passierte, gnade dir Gott. Sie aßen in einem großen Raum mit langen Tischen und vergitterten Fenstern. Sie durften nur reden, wenn sie angesprochen wurden. Einige der Nonnen waren lieb und geduldig, andere nicht, und alle trugen ihre Ordenstracht, was es schwierig machte, sie voneinander zu unterscheiden, bis eine Nonne dicht vor einem stand und einen direkt ansah. Schwester Josephine konnte sich umdrehen und zu Schwester Mary oder Schwester Delores werden, die jung und hübsch war, aber immer einen Rohrstock bei sich hatte. Es war am besten, sich an die Regeln zu halten und stets Respekt zu zeigen.
    Es war das New York Home for Friendless Girls. Mary Jane, die lesen konnte, sagte, dass die Worte auf einer Tafel vor dem Haus standen. Cora verstand den Namen nicht. Sie hatte einige Freunde. Mary Jane war ihre Freundin und Little Rose auch und Patricia und Betsy, alle jüngeren Mädchen und sogar Imogene, wenn Cora ihr nicht zu lästig wurde. Mary Jane erklärte, dass der Name bedeutete, keine Eltern zu haben. Ein Waisenkind zu sein. Aber auch das ergab keinen Sinn. Roses Vater kam fast jeden Sonntag zu Besuch. Rose sagte, dass er sie und ihre ältere Schwester bald abholen und nach Hause bringen würde. Und Patricias Mutter lag im Krankenhaus. Sie hatte Tuberkulose und war sehr krank, aber am Leben.
    Cora selbst hatte keine Eltern, jedenfalls keine, an die sie sich erinnern konnte. Sie hatte nur den Schatten einer

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