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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Onkel und Tante zu gehen. Als die vier ausstiegen und sie in der Bahn sitzen blieb, war sie ein bisschen traurig, obwohl sie lächelte und winkte und ihnen nachrief, brav zu sein. Wenn sie und Alan etwas ausbrüteten, war es am besten, die beiden nicht im Haus zu haben.
    Sie betrat leise das Haus und schlüpfte im Eingang aus ihren Schuhen, weil sie dachte, dass Alan vielleicht schlief, und sie ihn nicht stören wollte. Aber auf dem Treppenabsatz hörte sie ein Seufzen oder vielleicht auch Stöhnen und beschloss, ihm Bescheid zu sagen, dass sie zu Hause war, und nachzuschauen, ob er etwas brauchte. Aber als sie zu seiner Tür kam, die behandschuhte Hand erhoben, um anzuklopfen, fand sie keine geschlossene Tür vor, sondern den in Sonnenlicht getauchten Anblick ihres Mannes, wie er nackt auf Raymond Walker lag, der ebenfalls nackt war. Die Bettdecke war bis zu ihren Taillen hinaufgezogen, und Alans eine Hand war in das flammend rote Haar vergraben, während seine andere langsam über Raymonds sommersprossige Schulter strich. Raymonds Augen waren geschlossen, und Alan starrte ihn so unverwandt an, dass er ihr Kommen nicht bemerkte.
    Sie stand da wie erstarrt. Sie war einmal von einem Kalb ans Kinn getreten worden, als sie Mr. Kaufmann im Stall half. Sie erinnerte sich, wie ihr Kopf nach hinten geworfen wurde, erinnerte sich an jenen ersten Moment des Schockes ohne Schmerz, nur die Gewissheit, dass der Schmerz kommen würde.
    »O Gott«, sagte sie und legte eine Hand an ihren Mund. Die andere hielt sie an ihren Magen.
    Alan setzte sich auf und sah sie an. Sie starrte ihn an. Sie hatte noch nie seine nackte Brust gesehen, das dunkle Haar, das sich um seine Brustwarzen kräuselte.
    »Mach die Tür zu!«
    Seine Stimme war so herrisch und so laut, dass sie gehorchte oder es zumindest versuchte, indem sie nach der Klinke langte. Aber ihr Korsett presste sich eng an ihre Rippen und sie bekam keine Luft mehr. Sie tastete nach dem Türrahmen, weil sie glaubte, sie würde in Ohnmacht fallen, weil sie hoffte, in Ohnmacht zu fallen, sei es auch nur, um vor dem, was hier passierte, was sie gesehen hatte, zu entfliehen und ins Nichts zu fallen, wie es ihr bei der Geburt der Zwillinge passiert war. Aber etwas in ihr weigerte sich hartnäckig, die Flucht anzutreten. Sie war immer noch bei Bewusstsein, stand immer noch aufrecht, nahm immer noch alles mit entsetzlicher Deutlichkeit wahr. Sie drehte sich schwer atmend um und wandte sich zur Treppe, wollte nur noch weg von hier, raus aus dem Haus, aber ihr wurde schwarz vor Augen und sie konnte kaum atmen. Wieder drehte sie sich um und schloss fest die Augen, als sie an Alans Tür vorbei zu ihrem eigenen Zimmer ging, gedemütigt durch die würgenden Laute, die sie nicht unterdrücken konnte. Sie fiel aufs Bett und riss sich die Handschuhe von den Händen, damit sie ihr Kleid aufknöpfen konnte. Ein Knopf blieb in ihrer Hand. Sie schleuderte ihn von sich, und er prallte an der Wand ab. Sie hakte den Bund ihres Rockes auf und zerrte an den Bändern ihres Korsetts. Und noch immer arbeitete ihr Verstand, ließ nicht zu, dass sie vergaß, was sie gesehen hatte.
    Ihr Leben war vorbei. Das stand fest. Ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder, war verkommen und abartig. Nichts war so, wie sie geglaubt hatte.
    Als ihr Atem ruhiger ging, hörte sie Stimmengemurmel, dann das Klicken einer Gürtelschnalle, das Einschnappen von Hosenträgern und Schritte, die die Treppe hinuntereilten, das Öffnen und Zuschlagen der Haustür. Verließen sie zusammen das Haus? Alles, was sie sehen konnte, ob mit offenen oder geschlossenen Augen, waren Alans Finger, wie sie über die sommersprossige Schulter strichen. So zärtlich. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich übergeben musste.
    Sie hörte Wasser laufen und dann langsame, schwere Schritte die Treppe hinaufkommen. Sie versuchte aufzustehen und ihre Tür zu schließen, aber sie war nicht schnell genug, und dann stand Alan schon in seinem grünen Bademantel und der schwarzen Pyjamahose in der Tür und hielt ihr ein Glas Wasser hin. Seine Augen waren bekümmert, gequält.
    »Nimm das«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf und wandte sich von ihm ab. Das Fenster stand offen. Ein Vogel zwitscherte, und sie spürte eine kühle Brise auf ihrem Gesicht. Alan ging an ihr vorbei zu dem Sessel, der neben dem kleinen Tisch in der Zimmerecke stand. Er stellte das Wasser auf den Tisch und setzte sich mit gespreizten Beinen hin, einen Ellbogen auf jedes Knie gestützt, die Finger

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