Das Schmetterlingsmädchen - Roman
wieder aufnehmen.
»Das ist er«, sagte der Deutsche und hielt einen silbernen Schlüssel hoch. Er drehte sich um und betrachtete stirnrunzelnd ihr Handgelenk. »Sie haben keine Uhr?«
»Entschuldigen Sie. Hier ist sie.« Sie nahm ihre Armbanduhr aus der Tasche. Wieder hatte sie Floyd Smithers’ Rat befolgt, in dieser Gegend keinen Schmuck zu tragen.
»Gut.« Er hob seinen kräftigen Unterarm und sah auf seine eigene Uhr, die er an einem abgenutzten Lederarmband trug. »Sie haben zwanzig Minuten Zeit. Ich setze mich auf die Treppe und esse meinen Lunch. Wenn jemand früher nach unten kommt, werden Sie mich reden hören. Das heißt für Sie, dass Sie nicht rauskommen, sondern warten, bis ich Ihnen sage, dass die Luft rein ist.« Er warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »In dem Fall müssten Sie warten, bis alle zu Bett gehen, Sie sollten es also besser in zwanzig Minuten schaffen.«
Sie nickte. Er nickte ebenfalls, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer mit vergittertem Fenster, einem Schreibtisch, einem Stuhl und einem Karteikasten an der Wand, der so hoch wie sie und ein bisschen breiter als sie war, wenn sie die Arme ausstreckte. Der Schrank bestand aus vier Reihen Schubladen. Jede Schublade hatte einen kleinen Messinggriff.
»Zwanzig Minuten, ja?« Er ging in den Flur zurück. »Verstanden?«
»Ja.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. Es war ihr ernst. Er hatte nicht einmal Geld verlangt.
Er zuckte die Achseln und schaute an die Decke. »Kein Problem«, sagte er. »Ich esse meinen Lunch jeden Tag auf der Treppe.« Er schloss die Tür und ließ sie allein zurück. Das Klavierspiel wurde leiser, und sie konnte die Mädchen etwas auf Latein singen hören, mit hohen, sehnsüchtigen Stimmen.
Sie brauchte fast fünf Minuten, um dahinterzukommen, dass die Unterlagen manchmal nach dem Geburtsjahr, manchmal nach dem Jahr der Aufnahme ins Heim abgelegt waren. In jedem Ordner befanden sich Dokumente, die mit Nadeln zusammengesteckt waren. Wegen der Hitze zog sie ihre Handschuhe aus und stach sich sofort in den Finger, der zu bluten anfing. Während sie an der kleinen Wunde saugte, blätterte sie mit ihrer freien Hand die Akten durch und überflog die Namen auf den Karteikarten aus Pappe. DONOVAN, Mary Jane. STONE, Patricia. GORDON, Ginny. Sie blätterte weiter. Im oberen Stockwerk hörten die Mädchen auf zu singen.
Sie fand ihre eigene Akte in der Schublade für 1889, ihr Name in Großbuchstaben auf der Karteikarte: CORA – sonst nichts. Kein Nachname. Sie nahm die Akte heraus. Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie sich innerlich wappnen können.
Die oberste Seite war weder vergilbt noch zerknittert, und die getippte Schrift war leicht zu lesen.
Cora, 3, aus der Florence Night Mission
Haare: braun
Augen: braun
Scheint bei guter Gesundheit, gute Auffassungsgabe, angenehmes Wesen, momentan leicht verstört, vermutlich aufgrund der veränderten Umstände. War einige Zeit in der FNM (29 Bleecker Street).
Eltern: unbekannt
Unten auf der Seite hatte jemand in Handschrift hinzugefügt:
November 1892 mit dem Zug der Children’s Aid Society abgeschickt. Platz gefunden.
Sie zog die Nadel aus dem Stapel Papier. Das zweite Blatt war ein handgeschriebener Brief auf liniertem Papier mit einer Blütenborte am Rand. Der Umschlag fehlte, aber zwei Knicke im Papier zeigten, dass der Brief in drei Teile gefaltet worden war.
10. November 1899
An die guten Menschen im New York Home for Friendless Girls
Ich schreibe diesen Brief mit großer Bewunderung für die guten Werke, die Sie tun. Mein Mann und ich sind die glücklichen Pflegeeltern von Cora, jetzt dreizehn, die in ihrer frühen Kindheit in Ihrem Heim lebte und vor sieben Jahren in einem Zug mit Waisenkindern zu uns nach Kansas kam. Wir glauben, dass sie hier bei uns genauso glücklich ist, wie wir es mit ihr sind. Aber wir finden auch, dass sie ruhig mehr über ihre Herkunft und leiblichen Eltern wissen sollte, weil sie bestimmt einmal danach fragen wird, wenn sie älter ist. Ich kann Ihnen versichern, dass mein Mann und ich bestimmt kein Problem damit haben, Informationen über Coras Familie oder Herkunft zu erhalten. Wir würden uns im Gegenteil sehr darüber freuen, weil wir glauben, dass die Wahrheit, wie sie auch aussieht, unserem Mädchen Trost geben würde.
Mit Gottes Segen,
Naomi Kaufmann
Postfach 1782
McPherson, Kansas
Cora starrte auf die Unterschrift. Wahrscheinlich hatte Mutter
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