Das Schmetterlingsmädchen - Roman
eine Adresse! Vielen, vielen Dank!«
Er runzelte die Stirn und sah auf seine Uhr. »Gehen wir lieber nach draußen«, sagte er.
Sie hatte Verständnis dafür, dass er sie möglichst schnell aus dem Haus haben wollte. Das war in Ordnung. Draußen rannte sie die Stufen beinahe hinunter, flink und leichtfüßig wie ein Mädchen. Fast wäre sie mit einer stämmigen Frau, die keinen Hut trug, zusammengestoßen. Obwohl Cora sich bei ihr entschuldigte, warf ihr die Frau einen strafenden Blick zu.
»Alles in Ordnung?« Der Deutsche, der noch die Treppe hinunterging, setzte seine Mütze auf.
»Ja!« Sie atmete die Luft ein, die nach süßen Plätzchen roch und schmeckte, und lächelte. »Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«
»Sie wirken ziemlich …« Wieder runzelte er die Stirn und schlug die Hände zusammen. »… aufgeregt. Wollen Sie sich nicht hinsetzen?«
»Es geht mir gut«, beteuerte sie. Ein Laster rumpelte vorbei, und sie sprach lauter. »Nein, es geht mir fantastisch! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich fühle!« Sie konnte es wirklich nicht. Sie konnte ihm nicht erklären, was das, was er ihr ermöglicht hatte, für sie bedeutete. Gleich morgen würde sie einen Brief aufgeben. Er müsste in wenigen Tagen in Haverhill, Massachusetts, sein.
Der Deutsche schien sich zu freuen. Seine Augen strahlten hinter den Brillengläsern.
»Sie waren so nett zu mir, dabei kennen Sie mich doch gar nicht. Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie danken.«
»Ich könnte einen kühlen Drink vertragen«, meinte er.
Ihr Lächeln gefror. Machte er einen Scherz? Sie wusste es nicht. Spielte er auf ihr albernes Benehmen in der letzten Woche an? Aber er machte ein ernstes Gesicht. Und er wartete.
»Jetzt gleich?«, fragte sie. Selbstverständlich. Sie würde ganz sicher nicht ein Treffen oder eine Verabredung für später vereinbaren. Sie würde nie wieder hierherkommen. »Müssen Sie nicht arbeiten?«
»Ich arbeite immer. Ich wohne hier im Heim, da oben.« Er zeigte durch das Tor auf den ersten Stock des Nebengebäudes. Eine Metalltreppe führte nach oben zu einer Tür. »Sowie die Messe aus ist, kann ich gehen. Wenn im Haus alles funktioniert, kann ich Pausen machen, wann ich will.«
»Oh«, sagte sie. Sie sah sich um, sah die Leute an, die auf dem Bürgersteig an ihnen vorbeigingen, die Autos auf der Straße. Sie wurde gebeten, mit einem Ausländer einen Drink zu nehmen, und sie trug nicht ihren Ehering. Aber falls irgendjemand etwas davon mitbekam, ließ es sich keiner anmerken.
»Gleich um die Ecke ist ein Drugstore«, sagte er.
Sie nickte, was nicht heißen sollte, dass sie einverstanden war, sondern nur, dass sie ihn gehört hatte. Sie war unschlüssig. Ihr war wirklich nach Feiern zumute, und er war der Einzige, mit dem sie feiern konnte, und er verdiente auf jeden Fall Dank. Wie auch immer, er hatte bestimmt keine Absichten, was sie betraf – das hatte er in der vorigen Woche unmissverständlich klargemacht. Sie würde erwähnen, dass sie verheiratet war, würde es irgendwie in das Gespräch einfließen lassen. Es war nichts dabei, am hellen Tag mit jemandem in aller Öffentlichkeit etwas zu trinken. Und selbst wenn, es war egal, weil niemand, den sie kannte, sie sehen würde.
Im Schaufenster des Drugstores hing außer Reklametafeln für Bruchbänder, Mentholatum und kalte Getränke neben der amerikanischen auch die italienische Flagge. Drinnen roch es nach Knoblauch und Hamameliswasser, und Cora und der Deutsche waren die einzigen Kunden. Die Beleuchtung war gedämpft, zumindest verglichen mit dem gleißenden Sonnenlicht auf der Straße, aber in den Regalen hinter dem Ladentisch befanden sich vertraute Produkte: Talkumpuder und Hustensaft, Ayers Haarwasser, Zigarren, Mag-Lac-Zahnpasta und Garne. Es hätte ebenso ein Drugstore in Wichita sein können, wenn man von dem Schild an der Registrierkasse absah, auf dem in knallroten Buchstaben Benvenuto! stand – vermutlich eine Art Warnung, dachte Cora.
Eine rundliche, dunkelhaarige Frau, die hinter dem Ladentisch stand, nickte dem Deutschen zu. »Hallo! Was darf es denn heute sein?« Sie nahm Wärmflaschen aus einem Pappkarton und hängte sie an Wandhaken auf. Sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid mit Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten.
Cora drehte sich zu dem Deutschen um. »Was hätten Sie denn gern?« Sie war immer noch so glücklich, dass sie förmlich auf Wolken schwebte. Mary O’Dell. Gleich morgen würde sie
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