Das Schmetterlingsmädchen - Roman
und gepresst klang, gelang es ihr, die Tränen aus ihren Augen zu blinzeln. Verlegen setzte sie ihren Hut wieder auf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte sie.
Mary O’Dell nahm die Rosen und nickte feierlich, als wäre auch sie der Meinung, ja, es wäre schwer, einen Anfang zu finden.
Sie könne nur eine Stunde bleiben, sagte sie. Es täte ihr leid, aber sie müsse den Ein-Uhr-fünfzehn-Zug nach Boston erwischen, um rechtzeitig daheim zu sein. Wofür sie rechtzeitig zu Hause sein musste, sagte sie nicht, und Cora hielt es für das Beste, nicht auf weitere Erklärungen zu drängen. Noch nicht. Sie ermahnte sich auch, nicht enttäuscht zu sein. Diese Frau, ihre Mutter, hatte den ganzen Vormittag im Zug gesessen und würde den Nachmittag wieder im Zug verbringen. Eine Stunde war für den Anfang nicht schlecht.
Der Speisesaal war im Untergeschoss, genauso überfüllt und hektisch wie die Bahnhofshalle, aber ohne ihr Licht und ihre Pracht. Sie stellten sich an, um Eistee zu bestellen, mit dem sie sich an den einzigen freien Tisch setzten, den sie finden konnten. Da auf ihm immer noch Krümel von den letzten Gästen lagen, setzten sie sich einander gegenüber an eine Ecke, legten die Rosen auf einen freien Stuhl auf der anderen Seite und balancierten ihre Gläser in der Hand. Sie saßen auf die gleiche Art, mit geradem Rücken, die Füße unter den Stuhl geschoben und an den Knöcheln überkreuzt.
Die Frau deutete mit einer Kopfbewegung auf Coras Ring. »Du bist verheiratet«, sagte sie beifällig.
»Ja!« Cora fühlte sich zittrig, überdreht. Sie stellte ihren Tee auf den Tisch. »Schon seit fast zwanzig Jahren. Er ist wundervoll. Ein Anwalt. Wir haben zwei erwachsene Söhne.« Sie öffnete ihre Tasche und holte eine Fotografie von Howard und Earle heraus, die an dem Tag, an dem sie graduiert hatten, in einem Fotoatelier aufgenommen worden war. Beide trugen ihren Umhang und ihre Kappe und sahen sehr ernst aus, sogar Howard. Sie schob das Bild über den Tisch und beobachtete, wie sich der Mund ihrer Mutter, der ihrem eigenen so ähnlich war, zu einem Lächeln verzog. Wie oft hatte sie sich genau diesen Moment ausgemalt, wenn sie ihrer eigenen Mutter zum ersten Mal ihre prachtvollen Söhne zeigen konnte, ihrer Mutter, die, wie Cora jetzt auffiel, dieselbe schiefe rechte Augenbraue hatte wie Howard. Die Jungs. Nun, da es einen guten Grund dafür gab, würde sie ihnen, sowie sie wieder daheim war, die Wahrheit sagen. In Gedanken eilte sie weit voraus – vielleicht würde ihre Mutter zu Besuch kommen? Möglicherweise zu Weihnachten, wenn Howard und Earle Ferien hatten? Oder lieber zu Thanksgiving. Sie hatten schon so viel Zeit verloren.
Am Nebentisch langte ein Mann, der Zeitung las, in seine Jackentasche, zog einen silbernen Flachmann heraus und schraubte den Verschluss auf, ohne auch nur von seiner Zeitung aufzublicken.
»Herrje!« Mary O’Dell hob den Kopf. »Du meine Güte! Was für prächtige junge Burschen! Du hast keine Ahnung, wie tröstlich es für mich ist, dass du es im Leben so gut angetroffen hast.« Ihre Stimme klang nervös, brüchig. Sie fegte mit dem Handrücken Krümel vom Tisch, bevor sie das Foto hinlegte. »Ich kann dir gar nicht sagen, welche Ängste ich um dich ausgestanden habe. Ich wusste ja nicht einmal, ob du überhaupt … am Leben geblieben warst, ob dein Name noch derselbe war. Ich wusste nicht, ob du unglücklich bist. Ich wusste gar nichts.«
»Mir hat es an nichts gefehlt«, sagte Cora und lächelte. »Ich war gut aufgehoben. Sehr liebe Menschen haben mich adoptiert.« Das stimmte nicht so ganz. Nicht nach dem Gesetz. Aber es war wahr, dass die Kaufmanns sie gut behandelt hatten, und nur darauf kam es an.
»Danke. Danke, dass du mir das sagst.« Als sie nickte, als bräuchte sie eine zusätzliche Bestätigung, wippte ihr Hut auf und ab. »Ich glaube aber, dass ich immer gewusst habe, dass es dir gut geht. Ich hatte manchmal Angst um dich, aber ich war sicher, dass ich es spüren würde, wenn du leidest.« Sie lachte kurz und fuhr sich mit einem Finger über den Augenwinkel. »Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass du in Kansas lebst, auf einer Farm mit Pferden und Kühen. Ich habe immer geglaubt, dass du hier in New York bist.«
»Ich habe auch gedacht, dass du hier lebst. Auf Massachusetts wäre ich nie gekommen.«
Sie konnte nicht aufhören, den vertrauten Mund, die Lippen anzustarren. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass sie nicht nur ihre Mutter
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