Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Trotzdem war sie zwanzig Minuten zu früh auf dem Bahnhof und fand mühelos die große Uhr über dem Informationsschalter. Also blieb nichts anderes zu tun, als einfach dazustehen, die Rosen von einem Arm auf den anderen zu verlagern und an die Decke zu starren. Als sie bei ihrer Ankunft zum ersten Mal durch die Grand Central Station ging, war sie so überwältigt gewesen, dass ihr unter anderem nicht einmal aufgefallen war, dass das Blau der Decke den Hintergrund für eine Himmelskarte bildete, auf der die Sternbilder golden eingefasst waren. Aber heute hatte sie Zeit zum Staunen, Zeit, die Decke ebenso zu begutachten wie die funkelnden Kandelaber und die Terrassen mit Ausblick auf die Bahnhofshalle und den schier endlos scheinenden blank polierten Marmorboden und festzustellen, wie kühl es trotz der Hitze und der vielen Menschen in dem Gebäude war.
Aber vor allem schaute sie auf die Uhr. Bald. Sehr bald.
Als der Zeiger näher an die Zwölf rückte, achtete sie genauer auf die Reisenden, die aus allen Richtungen herbeiströmten. Mary O’Dell hatte geschrieben, dass sie einen grauen Hut mit Krempe und weißer Perlenstickerei tragen würde. Cora hatte keine Gelegenheit gehabt, zurückzuschreiben, um weitere Fragen zu stellen oder mitzuteilen, was sie selbst tragen würde. Deshalb suchte sie in der Menschenmenge nach einem grauen Hut und fuhr jedes Mal herum, wenn sie das Klappern von Absätzen hörte, nur um zu sehen, wie die betreffende Frau an ihr vorbeiging oder jemand anderen begrüßte.
Aber es gab keinen Grund zur Sorge. Noch nicht. Noch war es ein paar Minuten vor zwölf. An diesem Morgen war sie vor Tagesanbruch aufgewacht, schon vor dem ersten Schluck Tee zappelig und kaum imstande, angesichts Louises morgendlicher Trödelei, ihrer Angewohnheit, sich bis zum letzten Moment im Bett zu räkeln, nicht die Geduld zu verlieren. Cora hatte buchstäblich die Minuten gezählt, bis sie das Mädchen bei Denishawn abliefern konnte. Jetzt war sie frei und ungebunden, pünktlich und genau am vereinbarten Ort. Sie hatte sich große Mühe gegeben, sich hübsch anzuziehen. Sie trug ihr gutes Seidenkleid, ihre Perlen und einen schicken Hut mit lavendelblauem Band.
Sie strich ihr Kleid glatt, obwohl es nicht verknittert war, und versuchte, nicht ständig auf die Uhr zu schauen. Schließlich gab es genug Ablenkungen. Anscheinend war Mary O’Dell nicht die Einzige, die die Uhr als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Auf jeder Seite des Informationsstandes schienen glückliche Wiedervereinigungen stattzufinden. Ein alter Mann mit Spazierstock bückte sich, um ein Kind mit Rattenschwänzchen zu umarmen. Zwei erwachsene Frauen hielten sich an den Händen und hüpften auf und ab wie Schulmädchen. Ein Mann in einem weißen Anzug ging an Cora vorbei und auf eine junge Frau in einem ärmellosen Kleid zu. Als er bei ihr war, sagten sie kein Wort. Der Mann beugte sich vor, um die Frau zu küssen, stellte seine Reisetasche auf den Boden, damit er seine Hände auf ihre Hüften legen konnte, und zog sie an sich. Die bloßen Hände der Frau wanderten zu seinen Schultern hinauf. Ihre Fingernägel waren rot lackiert.
Erst als die beiden zu Cora schauten, fiel ihr auf, dass sie das Pärchen anstarrte.
Sie legte eine Hand an ihren Hals und drehte sich zum Informationsschalter um, wo sich gerade ein Mann mit Turban in stockendem Englisch nach einem Zug nach Chicago erkundigte. Er hielt einen Jungen in kurzen Hosen an der Hand, der mit offenem Mund die Decke anstarrte. Wahrscheinlich sah er sie auch zum ersten Mal. Er zupfte seinen Vater am Ärmel und sagte etwas in einer anderen Sprache zu ihm, und als der Vater ihn ignorierte, sah der Junge, der Coras Blick vielleicht spürte, zu ihr und rückte näher an seinen Vater heran. Er starrte sie weiter an, und Cora versuchte sich vorzustellen, was er in ihrem Gesicht sah, wie fremdartig sie auf ihn wirken mochte, wenn nicht nur die Grand Central Station, sondern ganz Amerika neu für ihn war. Sie schenkte ihm ein, wie sie hoffte, aufmunterndes Lächeln und wandte sich dann ab, um ihn nicht einzuschüchtern.
Heute liebte sie die Stadt, liebte das Gewimmel wie in einem Bienenkorb, liebte die Tafeln, auf denen die Ankunftszeiten der Züge aus Albany, Cleveland und Detroit und kleineren Städten standen, von denen sie noch nie gehört hatte. Sie liebte den kleinen Jungen, der neben seinem Vater stand, und sie liebte den Mann mit der stinkenden Zigarre und der Aktentasche, der durch die
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