Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Existenz ihr Überleben infrage gestellt hatte. Cora konnte nicht erwarten, dass sie sich jetzt auf einmal von Gefühlen beeinflussen lassen würde. Cora kannte sie nicht und würde vermutlich nie Gelegenheit haben, sie kennenzulernen, aber wenigstens eines hatte sie über ihre Mutter gelernt: Sie war eine Frau, die sich schon als junges Mädchen aus einer Katastrophe gerettet hatte, die wusste, was zum Überleben erforderlich war. Wie viele Mädchen in diesem Alter wären imstande gewesen, ein Geheimnis wie dieses für sich zu behalten? Mary O’Dell hatte es geschafft. Sie hatte ihr Baby bekommen und war nach Massachusetts zurückgefahren, hatte so getan, als wäre alles, was sie verloren hatte, ihr Geld gewesen, als wäre nie ein neues Leben in ihr entstanden, und hatte allen offen in die Augen geschaut. Und jetzt befürchtete sie, dass Cora nach Massachusetts kommen wollte, um ihre legitime Familie zu zerstören, ihre Ehe, ihre Würde, alles, wofür sie vor all den Jahren gelitten und gelogen und ihr Kind aufgegeben hatte. Sie wusste nicht, dass eine derartige Drohung überflüssig war, dass Cora nur zu gut begriff, wovor sie Angst hatte.
»Ich werde dir keinen Ärger machen.« Coras Stimme war erstaunlich ruhig. Sie nahm das Foto der Jungs und steckte es wieder in ihre Handtasche.
Mary O’Dell sah auf die Stelle, wo das Bild gelegen hatte. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie leise. »Ich wünschte, die Dinge wären anders.«
»Ich verstehe schon. Ich komme nicht nach Haverhill, es sei denn, ich werde eingeladen.« Obwohl ihr elend war, versuchte sie zu lachen. »Und das wird wohl kaum passieren.«
»Es heißt Hay-ver-ill. Nur dass du es weißt. Das zweite h wird nicht ausgesprochen.«
Cora hätte sie ohrfeigen können. Ihr den Tee ins Gesicht schütten können. Auf einmal war der Zorn da, die Empörung. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, trotz ihrer Enttäuschung freundlich zu bleiben und Würde zu zeigen. Sie begriff Mary O’Dells Lage und warum sie sich fernhalten musste. Sie begriff es. Aber nein, sie hatte nicht gewusst, dass es Hay-ver-ill hieß, nicht Haver-hill. Woher hätte sie wissen sollen, wie man den Namen der Stadt aussprach, in der ihre erweiterte Familie lebte, die Stadt, in der ihre Geschwister gemeinsam aufgewachsen waren, die Stadt, von der Cora bis vor zwei Wochen nie etwas gehört hatte? Nein. Das mit dem stummen h hatte sie nicht gewusst.
Aber sie sagte nichts. Es brachte nichts, ihren Zorn zu zeigen, zu versuchen, dieser Frau wehzutun, die tatsächlich keine Wahl gehabt hatte. Es brachte nichts. Der Mann mit dem Flachmann starrte aus trüben Augen auf seinen Tisch.
»Warum hast du an das Waisenhaus geschrieben?«, fragte Cora. »Warum bist du heute überhaupt hergekommen?«
Sie wandte den Kopf, sodass Cora ihr Gesicht nicht sehen konnte, nur den perlenbestickten grauen Hut. »Das habe ich dir doch gesagt. Ich musste sehen, wer du bist, was für ein Mensch aus dir geworden ist. Es hat mich so lange gequält.« Ihre Stimme war immer noch gesenkt und bebte. »Ich wollte dich glauben lassen, dass ich eine Freundin deiner Mutter war, jemand, der sie gekannt hat. Dumm von mir. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Sie sah Cora wieder an und lächelte mit dem vertrauten Mund. »Aber ich bin froh, dass ich gekommen bin. Ich bin so erleichtert, so glücklich, dich zu sehen und zu wissen, dass es dir gut geht, dass du nicht in der Gasse aufgewachsen bist, dass du ein geordnetes Leben führst.«
Cora nickte. Geordnet. Als ob das dasselbe wäre wie gut.
»Du hast mir heute ein großes Geschenk gemacht.« Sie langte über den Tisch und legte ihre Hände an Coras Wangen. »Es ist wahr, dass du mir ein Dorn im Auge wärst, wenn du je nach Haverhill kämst. Aber eines musst du wissen. Wenn wir jetzt Abschied nehmen und uns nie wiedersehen, wirst du immer eine Rose in meinem Herzen sein.«
Cora konnte ihren Widerwillen kaum verbergen. Es war, als würde sie einen üblen Geruch einatmen und versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Eine Rose in ihrem Herzen? Erbärmlich. Wie lächerlich, so etwas zu sagen. Diese Frau, diese gerissene, pragmatische Frau, servierte ihr diesen Schmu als Trost? Hatte sie sich das wirklich ausgedacht, als sie nachts im Bett lag und diesen Besuch plante, eine Strategie entwickelte, wie sie bekommen konnte, was sie wollte, ohne zu verlieren, was ihr mehr bedeutete als dieses uneheliche Kind? Cora konnte den Kummer, die echte Qual in ihren Augen
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