Das Schmetterlingsmädchen - Roman
ihre Mutter, als würde sie ein Zugeständnis machen. »Ich will nicht sagen, dass du ihn hassen sollst. Ich habe ihn damals gehasst, aber jetzt nicht mehr. Er war jung und hatte Angst. Ich kann mich erinnern, dass er aus einer großen Familie kam. Arme Leute. So etwas wollte er sich nicht antun, denke ich.« Sie zuckte gleichgültig die Achseln. Aber als sie ihr Glas an ihre Lippen hielt, sah Cora, dass ihre Hand bebte.
»Tut mir leid«, sagte Cora. »Das muss schlimm für dich gewesen sein.«
»Nun, du hast mir leidgetan.« Sie sah Cora an und schaute dann weg. »Aber allein und unverheiratet hätte ich nicht für dich sorgen können. Ich hatte keine Wahl.«
»Ich weiß«, sagte Cora. Sie meinte es ehrlich. Sie hatte wirklich Verständnis für die Lage ihrer Mutter. Sie langte über den Tisch, um Mary O’Dells kleine Hand zu berühren, die rauer war, als sie erwartet hatte, sogar auf dem Handrücken. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Glaub mir.« Mary O’Dells Hand bewegte sich nicht, erwiderte die Geste nicht. Unsicher zog Cora ihre eigene Hand zurück.
»Also, ich habe mir weiß Gott Vorwürfe gemacht.« Wieder sah sie zu den Nebentischen. »Es war schrecklich für mich, dich dortzulassen.«
»Wo?«
»In der Mission. Der Florence Night Mission. Die Leute, die sie führten, waren in Ordnung, und ich wusste, dass sie einen Platz für dich finden würden. Aber die Zeit, die ich dort verbracht habe, war schrecklich. Die anderen Frauen waren Unterschicht, richtige Straßenmädchen.« Sie hob ihre Hand und strich über ihre Perlen. »Und einige noch im Geschäft, wohlgemerkt. Sie tauchten dort bloß auf, um der Kälte zu entkommen. Ich war die Einzige, die ein Baby bekam, und wahrscheinlich das einzige Mädchen aus einer anständigen Familie, das einfach einen Fehler gemacht hatte. Aber ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte. In Boston hätte ich nicht bleiben könnten. Da waren meine Cousins und Cousinen, meine Tanten, mein Onkel. Ich hätte ihnen allen Schande gemacht. Sie hätten mich nach Irland zurückgeschickt, und dort wäre ich für alle ein gefallenes Mädchen gewesen. Deshalb behauptete ich, dass ich eine gute Anstellung in New York gefunden hätte, kam her und versteckte mich in der Mission, bis du da warst. Und dann fuhr ich ohne dich nach Boston zurück und erzählte den anderen, dass jemand mich mit einem Messer bedroht und mir mein Geld weggenommen hatte.« Wieder lächelte sie schief. »Alle haben mich bedauert.«
Cora wartete. »Und dann?«
»Nichts. Ich lebte wie vorher weiter. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Es war, als wäre es nie passiert.« Sie hob ihr Kinn. »Es hat mich nicht verfolgt oder mir Unglück gebracht. Ich habe einen anständigen Mann geheiratet, und alles ging gut. Zwei unserer Söhne sind in der Politik.« Sie straffte die Schultern. »Unsere Tochter hat vor Kurzem in eine sehr gute Familie eingeheiratet.«
»Dann habe ich …« Cora brachte die Worte kaum über die Lippen. »Ich habe Brüder? Und eine Schwester? In Haverhill?«
Sie zögerte. »Halb. Es sind Halbgeschwister.«
»Aber trotzdem –«
»Sie wissen nichts von dir. Das habe ich dir doch gesagt. Niemand weiß es.«
Cora senkte den Blick. Natürlich verstand sie, was Mary O’Dell meinte. Sie konnte sich vorstellen, welchen Skandal es hervorrufen würde, wenn in Wichita eine der Damen der guten Gesellschaft, eine der Frauen aus dem Club, plötzlich zugab, dass sie ein uneheliches Kind hatte. Es wäre egal, ob das Kind inzwischen sechsunddreißig Jahre alt oder die Frau selbst Großmutter war. Eine Verfehlung war eine Verfehlung. Cora würde der Auslöser für die Demütigung der ganzen Familie sein und allein deshalb abgelehnt werden.
»Du wirst ihnen nichts von mir erzählen.«
»Nein.« Die Antwort war kurz und entschieden, ohne den Schatten eines Zweifels oder Raum für Diskussionen. »Und da ich dich nicht kenne und nicht weiß, was du vorhast, will ich mich ganz klar ausdrücken.« Der Akzent war stärker geworden und klang nicht mehr weich und freundlich. »Ich kann dir versichern, dass meinen Kindern genauso wenig daran liegt wie mir, dass du Schande über mich bringst. Wir halten zusammen. Falls du Ärger machst, wirst du das am eigenen Leib erfahren.«
Cora schaute weg. Die Warnung war ebenso schlau wie unnachgiebig, aber das war kein Wunder. Mary O’Dell, ihre Mutter, war eine schlaue und unnachgiebige Person; sicher war sie schon so gewesen, als sie siebzehn und schwanger war und Coras
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