Das Schneemädchen (German Edition)
höherschlug, fest und rein.
Sie war verliebt. Acht Jahre lebte sie nun schon hier, und endlich hatte das Land sie erobert, ließ sie ein wenig von Fainas Wildheit begreifen.
Die letzten sechs Jahre waren wie im Rhythmus der Meeresgezeiten verstrichen, hatten gegeben und genommen, das Mädchen mit sich fortgezogen und wieder zurückgebracht. In jedem Frühjahr folgte Faina dem Zug der Karibus ins Hochland, wo ewiger Schnee die Berge deckte, und Mabel ließ sie ohne Tränen ziehen, auch wenn sie wusste, dass sie ihr fehlen würde.
«Umbruch» nannten die Siedler jene Zeit im Jahr, in der das Eis auf dem Fluss dahinschmolz und die Felder sich in Schlammwüsten verwandelten – ein Wort, in dem für Mabel auch etwas Zartes, Sanftes mitschwang. Wenn sie Abschied von dem Mädchen nahm, erblühten die Sumpfveilchen an den Bächen purpurn und weiß, liebkosten Elchkühe mit dem Maul sacht ihre Neugeborenen, begann die Sonne den Winter aus dem Tal zu vertreiben.
Und dann, wenn die Tage sich lang zogen, wurde der Boden weich und warm, und die Farm gedieh. Unter einer Pappel hinter dem Stall stand der Gartentisch, den Jack und Garrett gezimmert hatten und den im Sommer oft Wildblumen zierten, in einem Einmachglas, das einmal schwarzgebrannten Schnaps enthalten hatte. Sonntags aßen sie meist gemeinsam mit den Bensons, mal hier, mal dort auf dem Hof. Wenn das Wetter und – selten genug – die Mücken es erlaubten, tafelten sie im Freien. Dann schichteten Jack und George schon frühmorgens Erlenholz in eine Feuerstelle und brieten dort ein ordentliches Stück Fleisch eines Schwarzbären, den Garrett im Frühjahr geschossen hatte. Esther steuerte einen Salat aus Kartoffeln und Roter Bete bei, Mabel holte einen frischen Rhabarberkuchen aus dem Ofen und legte ein weißes Tischtuch auf. Dann zogen die beiden Frauen Arm in Arm los und pflückten Weidenröschen und Glockenblumen. Im Hintergrund hörten sie die Männer reden und lachen, während das herabtropfende Bärenfett die Flammen zischend aufflackern ließ. Wenn Mabel ins Blockhaus ging, um Teller und Besteck zu holen, kam Jack ihr manchmal nach, strich ihr sanft die Haare nach hinten und küsste sie auf den Hals. «Du bist so schön wie nie», sagte er.
Wenn die langen, anstrengenden Tage der Erntezeit anbrachen, war es manchmal so, wie Mabel es sich einst vorgestellt hatte – sie und Jack gemeinsam auf dem Feld, ob sie nun Kartoffeln in Rupfensäcke sammelten oder Kohlköpfe von den Strünken schnitten. Und selbst wenn sie sich immer wieder den Schweiß aus dem Gesicht wischen musste und grober Sand zwischen ihren Zähnen knirschte, versuchte sie doch, die Süße des Augenblicks tief in sich einzusaugen. Abends kneteten sie sich gegenseitig die schmerzenden Muskeln und jammerten zum Spaß über ihre Zipperlein, Mabel stets mehr als Jack, obwohl sie wusste, dass er weit ärgere Schmerzen litt.
Dann, wenn die Tage wieder kürzer wurden und der erste Frost kam, schlossen sie die geflüsterte Bitte um Schnee in ihr Tischgebet ein. Mabel stellte Mutmaßungen darüber an, wie viel Faina seit ihrem letzten Zusammensein gewachsen sein mochte, und fertigte Wollstrümpfe, lange Unterwäsche und mitunter auch einen neuen Mantel, immer aus blauer Wolle mit weißem Pelzbesatz und gestickten Schneeflocken auf dem Vorderteil.
Bei jeder Rückkehr war das Mädchen größer und schöner, als sie es in Erinnerung hatten, und brachte Geschenke aus den Bergen mit. In einem Jahr war es ein Sack voll Dörrfisch, in einem anderen ein Karibufell, weich gegerbt und nach wilden Kräutern duftend. Sie umarmte und küsste sie, versicherte ihnen, dass sie ihr gefehlt hatten, und lief dann wieder hinaus in den verschneiten Wald, den sie ihr Zuhause nannte.
Mabel hatte es aufgegeben, in der Wildnis nach ihr zu rufen oder sich etwas auszudenken, das sie zum Bleiben bewegen könnte. Stattdessen saß sie am Tisch und zeichnete bei Kerzenschein ihr Gesicht – das vorwitzige Kinn, die klugen Augen. Die Zeichnungen verwahrte sie in dem ledergebundenen Kinderbuch, das die Geschichte von dem Schneemädchen erzählte.
Winter um Winter kehrte Faina in ihre Blockhütte im Wald zurück, und in all der Zeit bekam niemand sonst sie je zu Gesicht, was Mabel nur recht war. Wie den Otter hütete sie auch das Mädchen als ein Geheimnis.
Kapitel 37
Garrett nahm den Fuchs ins Visier. Das Tier war noch ein paar hundert Meter entfernt, hielt aber flussaufwärts stracks auf ihn zu. Bald würde es in Reichweite
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