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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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sein. Garrett lehnte sich an den Pappelstamm, stützte den Ellenbogen gegen das Knie und hielt das Gewehr so ruhig wie möglich. Sein Finger lag locker auf dem Abzug.
    Es mochte durchaus der eine Fuchs sein. Seit Jahren verbot Jack ihm schon, den Rotfuchs zu schießen, der in den Feldern und dem Flussbett unweit ihrer Farm auf Raubzüge ging. Laut Jack gehörte er einem Mädchen, das allein im Wald lebte, in den Bergen jagte und Wintern trotzte, die ausgewachsene Männer zur Strecke brachten. Ein Mädchen, das niemand je zu Gesicht bekam.
    Garretts Gewehr hob und senkte sich leicht mit seinen Atemzügen, doch sein Blick blieb auf das Tier geheftet. In dem schwächer werdenden Novemberlicht konnte er nicht mit Sicherheit erkennen, ob es vielleicht doch ein Kreuzfuchs war, teils silbrig schwarz, teils rot. Das Tier blieb stehen und reckte die Nase in die Luft, als hätte es etwas gewittert, dann setzte es seinen Weg über den verschneiten Fluss fort. Die Sonne senkte sich ein Stückchen tiefer, und die letzten goldenen Strahlen verloren sich im Tal.
    Er ließ den Fuchs herankommen. Als er keine hundertfünfzig Meter mehr entfernt war, beugte Garrett sich vor, presste die Wange an den Gewehrschaft, kniff das linke Auge zu und visierte mit Kimme und Korn den Rücken des Fuchses an. Doch der Fuchs drehte ab, wandte Garrett unvermittelt die Lunte zu und schnürte flink hinter einem Weidenstrauch vorbei in Richtung der am nächsten stehenden Pappeln. Garrett ließ das Gewehr sinken. Er hatte einen Moment zu lange gezögert. Bald würde es zum Zielen zu dunkel und der Fuchs zwischen den Bäumen nicht mehr auszumachen sein.
    Doch dann sah er, dass das Tier innegehalten hatte und vom Waldrand zu ihm herüberblickte. Garrett hob das Gewehr erneut an die Wange, spähte mit zusammengekniffenen Augen am Lauf entlang und drückte ab.
    Der eine Schuss genügte. Von seiner Wucht wurde das kleine Tier zur Seite geschleudert und blieb reglos liegen. Garrett warf die Hülse aus, stand auf und ging, das Gewehr an der Seite, zu dem toten Fuchs.
    Das Tier war dürr und struppig geworden, und die Jahre hatten das Fell um Schnauze und Nacken weiß gefärbt, sodass man es bei schlechtem Licht und auf einige Entfernung für einen Kreuzfuchs halten konnte. Doch es bestand kein Zweifel. Das war der Fuchs.
    All die Jahre hatte Garrett Jacks Befehl Folge geleistet. Ob der Fuchs über ein Feld flitzte oder im Wald seinen Weg kreuzte, Garrett ließ ihn ungeschoren, stets zu seinem Missvergnügen. Nichts deutete darauf hin, dass sich dieser Fuchs in irgendetwas von jedem anderen wild umherstreifenden Tier unterschied.
    Doch nun, da er ihn getötet hatte, bereute er es. Er hatte sein Ehrenwort gegeben. Nun sollte er den Fuchs eigentlich Jack und Mabel bringen, beichten und um Verzeihung bitten. Jacks Tadel würde streng ausfallen. Mabel würde kein Wort sagen, nur sanft den Kopf schütteln und sich mit den Händen über die Schürze streichen.
    Er musste das Tier loswerden. Er konnte versuchen, den Balg zu verkaufen, doch der war schäbig und praktisch wertlos. Seine Mutter würde fragen, woher er ihn hatte. Sein Vater würde das Fell genauer betrachten wollen. Zuletzt würde Garrett Lügen fabrizieren müssen, und Lügen machten die Dinge normalerweise nur noch komplizierter.
    Er schulterte sein Gewehr, griff nach dem Fuchs und trug ihn zu den Bäumen. Das Tier war überraschend dürr und knochig, wie eine alte Stallkatze.
    Hinter den Pappeln, in einem dichten Fichtenbestand, bettete Garrett den Fuchs am Fuß eines Baums in den Schnee, brach immergrüne Zweige ab und bedeckte ihn damit. Er hoffte, dass es bald wieder schneien würde.
    Auf dem Heimweg in der Abenddämmerung fühlte er sich mit einem Mal nicht mehr wie ein nahezu erwachsener Mann von neunzehn Jahren, sondern wie ein nichtsnutziger Lausebengel.

    «Garrett. Freut mich, dass du kommen konntest.»
    Jack begrüßte ihn an der Haustür und schüttelte ihm die Hand. «Wir hatten im Stillen gehofft, dass du es heute Abend schaffen würdest.»
    Mabel saß am Küchentisch und lächelte ihn an.
    «Ma hat gesagt, dass ihr mich sehen wollt.»
    «Ja, es ist an der Zeit», sagte Mabel.
    «Worum geht’s?» Garrett wurde es flau im Magen.
    «Nimm doch Platz», sagte Jack und zog einen Stuhl hervor.
    «Danke.»
    Garrett setzte sich und sah von Jack zu Mabel und wieder zurück zu Jack.
    «Die Sache ist die», sagte Jack. «Wir wollten mit dir über die Farm reden …»
    «Sollten wir nicht vielleicht

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