Das Schneemädchen (German Edition)
langbeiniges Rehkitz bei seinen ersten Gehversuchen erinnerte. Jack schlug die entgegengesetzte Richtung ein und nahm Mabel an der Hand.
So sind wir oft zusammen eisgelaufen, als wir jung waren, sagte er, als sie an Faina vorbeikamen. Weißt du noch?
Wie könnte ich das vergessen? Du hast ständig versucht, mich zu küssen, aber ich habe dich immer abgehängt, und du hattest keine Chance.
Sie lachte, befreite ihre Hand aus seiner und lief flussaufwärts. Jack verfolgte sie über das Eis; die nachtschwarzen Bäume und der Himmel flogen an ihm vorüber.
Schneller! Lauf schneller!, rief Faina. Jack wusste nicht, wen von ihnen beiden sie anfeuerte, doch er spurtete so flott, wie er sich traute, und betete nur, dass seine Kufen nicht in einem Spalt oder an einem Buckel hängen blieben. Mabel blieb immer eben außer Reichweite, dann endlich wurde sie langsamer und drehte sich mit einem Schwung zu ihm um. Hand in Hand liefen sie zurück zu Faina, die in dem kleinen Lichtkreis der Laterne stand. Ohne ein Wort nahmen sie Faina links und rechts bei der Hand und liefen flussaufwärts, den Biegungen des Ufers folgend. Faina quietschte vor Entzücken. Selbst durch die dicke Wattierung der Mäntel spürte Jack ihren kleinen Arm in seinem, und ihm war, als läge sein Herz eingebettet zwischen ihren beiden Ellenbogen. Das Eis war wie nasses Glas, und sie glitten so schnell dahin, dass sie einen Windhauch im Gesicht fühlten. Mabel liefen Tränen über die Wangen; Jack sah es und fragte sich, ob es die Kälte war, die ihr das Wasser in die Augen trieb.
Vor der Biegung, bei der der kleine Nebenarm wieder in den Hauptfluss mündete, machten die drei halt und standen Arm in Arm da, Jack und Mabel völlig außer Atem. Der Mond erhellte das gesamte Tal, tauchte das Flusseis und die weißen Berge in schimmernden Glanz.
Laufen wir weiter, wisperte Faina, und auch Jack wollte den Lauf am liebsten fortsetzen, den Wolverine hinauf, um die Biegung, durch die Schlucht und hoch nach oben in die Berge, wo es nie Frühling wird und der Schnee niemals schmilzt.
Kapitel 36
Er war nicht immer da. An manchen Tagen kämpfte Mabel sich durch den Schnee hinunter zum Bach hinter dem Blockhaus, und das Geschöpf wollte sich nicht zeigen. Nur das Rieseln des Wassers durch Schnee und Eis war zu hören. Doch wenn sie geduldig und still am Fuß der Fichte saß, tauchte er am Ende schließlich doch auf. Sein kleiner brauner Kopf lugte aus einem Eisloch im Bach, oder sein Schwanz verschwand über einen Schneehügel.
An diesem Novembertag ließ der Fischotter sie nicht warten. Sie hörte Eis splittern, einen Platscher, und dann war er da, auf der anderen Seite des kleinen Baches. Statt wie sonst immer über einen Baumstamm zu flitzen oder krummbuckelig die Uferböschung entlangzuhasten, verharrte er am Wasserrand, wandte sich zu ihr hin und machte Männchen. Erstaunlich reglos stand er da, auf seinen dicken Schwanz gestützt, die Vorderpfoten baumelten vor der Brust. Länger, als Mabel den Atem anhalten konnte, starrte der Otter sie an, mit Augen, die tiefen Strudeln glichen. Dann ließ er sich auf alle viere fallen und machte sich bachabwärts davon.
Leb wohl, alter Mann, bis wir uns wiedersehen.
Sein Alter und sein Geschlecht konnte sie natürlich nicht wissen, aber seine helle Kieferpartie und die langen, borstigen Schnurrhaare erinnerten sie ein wenig an den Bart eines alten Mannes. Von ferne wirkte der Otter ulkig und verschmitzt, doch wenn er nahe an sie heranrobbte, roch Mabel Fischblut und nasse Kälte.
Sie erzählte niemandem von dem Otter. Garrett würde ihn fangen wollen, Faina würde sie bitten, ihn zu zeichnen. Sie sträubte sich dagegen, ihm Fesseln gleich welcher Art anzulegen, denn ein seltsames Gefühl sagte ihr, dass er wie ihr Herz war. Ein lebender, pulsierender Muskel unter struppigem, feuchtem Fell. Ein Wesen, das durch dünnes Eis brach, in kaltem Bachwasser planschte, bäuchlings über den Schnee schlitterte. Voller Lebensfreude, komme, was da wolle.
Und es war nicht allein der Fischotter. Einmal erspähte sie einen graubraunen Kojoten, der über ein Feld trottete, das halbgeöffnete Maul wie zu Gelächter verzogen. Sie sah einen Schwarm Seidenschwänze von Baum zu Baum streichen, Dämmerschatten gleich und in ihrem Flug scheinbar von einer höheren Macht gelenkt. Sie beobachtete ein weißes Hermelin, das mit einer fetten Wühlmaus im Maul am Stall vorbeihuschte. Und jedes Mal spürte Mabel, wie etwas in ihrer Brust
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