Das Schneemädchen (German Edition)
zwanzig Kilo schwer, schätzte Garrett, und eigentlich hätte sie mit seinem Gewicht zu kämpfen haben müssen, doch sie warf es ihm mit Leichtigkeit vor die Füße. Hinter ihm wieherte das Pferd leise und wich zurück.
Was ist das?, fragte er.
Ein Vielfraß.
Das sehe ich selber. Was hast du damit vor?
Ich schenke ihn dir. Dann kannst du wieder gehen.
Einen Moment lang war Garrett sprachlos.
Ich will ihn nicht, sagte er verärgert. Nicht so.
Ich häute ihn dir ab, sagte das Mädchen und wollte wieder nach ihrem Bündel greifen.
Was? Nein, zum Teufel, das meine ich nicht. Wieso solltest du ihn mir schenken?
Ich will ihn nicht. Du schon.
Warum hast du ihn getötet, wenn du ihn nicht willst?
Er hat Marder und Köder gestohlen. Nimm ihn.
Noch nie in seinem ganzen Leben war Garrett so wütend gewesen. Wenn er daran dachte, wie viele Jahre er sich nun schon mühte, einen Vielfraß zu fangen – und da warf ihm dieses Mädchen einen vor die Füße wie einen wertlosen Kadaver. Und befahl ihm zu gehen. Er marschierte zurück zu seinem Pferd, griff nach dem Sattelhorn und stieg auf.
Nimmst du ihn nicht mit? Die Stimme des Mädchens klang höher, kindlicher als zuvor.
Garrett gab keine Antwort. Er schüttelte die Zügel, und das Pferd begann, sich Schritt für Schritt die Schlucht hinabzutasten.
Hier sind sonst keine, rief das Mädchen ihm nach. Nur dieser eine.
Er blickte nicht zurück.
Nimm ihn mit, rief sie. Damit du nicht wiederkommen musst.
Ich will deinen vermaledeiten Vielfraß nicht, brüllte er über die Schulter. Und ich komme wieder, wann es mir passt. Du hast das Land hier nicht gepachtet.
Erst als er sich dem Kamm näherte, gestattete er sich einen Blick zurück. Das Mädchen stand noch am selben Fleck, den Vielfraß vor sich am Boden. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte aus dem schmalen Strich ihrer Lippen Zorn zu lesen.
Sobald er sich außer Sichtweite des Mädchens wähnte, stieg er abermals ab. Der Boden war zu tückisch zum Reiten. Unter dem Schnee verbarg sich gefrorenes Wasser vom Bach, und auch die Felsbrocken waren mit Eis überzogen. Er führte das Pferd zu einer offenen Stelle im Bach und ließ es trinken. Als es fertig war, hockte er sich hin, schöpfte eine Handvoll Wasser und trank ebenfalls. Es war wohlschmeckend und kalt und versetzte seinen Magen in Aufruhr.
Er hatte nicht vor, schon den Rückweg anzutreten. Der Tag war noch jung, und er hatte noch keine einzige Falle ausgelegt.
Die Reviere anderer Fallensteller hatte er bisher immer respektiert. Ein Junggeselle, nicht viel älter als Garrett selbst, hatte Anspruch auf das Land flussabwärts von Jacks und Mabels Gehöft erhoben, und dort setzte er keinen Fuß hin. Er hatte Boyds Fallenstrecken nicht angerührt – auch als er sah, dass der alte Mann nichts mehr damit anstellte –, bis Boyd ihm die Strecke überließ. Ein Mann, der einem Fallensteller die Beute wegnahm, riskierte, erschossen zu werden, und schon das Eindringen in fremdes Territorium galt als respektlos. Aber das hier? Das war nur ein Mädchen, das ein paar Kaninchen in der Schlinge fing. Der Vielfraß – ach was. Das war sicher ein Glückstreffer gewesen.
Doch er wusste, dass es sich nicht so verhielt. Mit Glück allein war kein Vielfraß zu fangen, und er hatte zugesehen, wie sie den Schwan tötete. Sie verstand ihr Handwerk.
Er rieb sich die Stirn mit Bachwasser ein und trocknete die Hand an seinem Mantel ab, bevor er die Lederhandschuhe wieder überstreifte. Es begann zu schneien. Das kam unerwartet. Morgens war der Himmel wolkenlos gewesen. Als er vor Sonnenaufgang zum Außenabort ging, hatte er die Polarlichter in der Schwärze tanzen und flirren sehen, wie sie es nur in klaren, kalten Nächten taten. Und jetzt, nur ein paar Stunden später, schneite es. Er sah zu den Bergen hin, doch die waren von tief hängenden Wolken verschluckt.
«Na dann, Jackson. Wird wohl doch Zeit, dass wir uns nach Hause aufmachen, was?»
Für gewöhnlich redete er nicht mit Pferden, aber ihm war unbehaglich zumute. Der Schnee fiel nun stetig, und vom Flussbett wehte ein leichter Wind herauf. Er hievte sich in den Sattel und wusste im ersten Moment nicht, wohin. Es schneite so dicht, dass er nur noch die Umrisse der zunächst stehenden Bäume erkennen konnte.
«Bergab, Jackson? Richtung Fluss kann es ja so verkehrt nicht sein.»
Bald jedoch nahm das Schneetreiben Garrett vollends die Sicht, und das Pferd stolperte den kaum noch erkennbaren Pfad
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