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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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entlang.
    «Herrgott», murmelte er. «Wo kommt das auf einmal her?» Nie zuvor hatte er einen Schneesturm so buchstäblich aus heiterem Himmel aufziehen sehen.
    Er schlug den Mantelkragen hoch und holte eine Wollmütze aus der Satteltasche. Als er sich vom Sattel herabgleiten ließ, reichte ihm der Schnee schon bis über die Knie, und die Flocken fielen immer weiter, dicht und rasch. Er stieg wieder auf und lenkte das Pferd durch die Bäume, doch ihm war die Orientierung abhandengekommen. Offenbar hatte er die Hangstrecke hinunter zum Fluss verfehlt und bewegte sich nun in entgegengesetzter Richtung durch eine Schlucht. Er überlegte, was er bei sich hatte. Nur das Nötigste zum Überleben – ein paar Zündhölzer, ein Taschenmesser, ein Ersatzpaar Wollsocken. Den Proviant, den seine Mutter ihm eingepackt hatte. Sonst nicht mehr viel. Keine Zeltplane. Keinen Schlafsack. Er machte den schemenhaften Umriss einer großen Fichte aus und hielt darauf zu.
    Hier konnte er das Ende des Sturms abwarten, eine Weile zumindest. Er brach einige der untersten Zweige ab und schabte mit der Stiefelkante Schnee vom Stamm weg. Ein kümmerlicher Unterschlupf, aber besser als nichts. Er knickte die Zweige über dem Knie zu handlicheren Teilen und schälte Rindenstücke von einer nahe stehenden Birke. Sobald er das Feuer in Gang gebracht hatte, konnte er mit seiner Axt größere Kloben zurechthacken.
    Im Schneidersitz unter dem Baum hockend, schichtete er Rinde und Fichtenzweige übereinander und riss ein Zündholz an, das im Schneetreiben alsbald zischend erlosch. Noch eins. Noch eins. Nur noch ein paar übrig. Endlich fing ein kleines Stück der papierdünnen Rinde Feuer, doch schon Sekunden später blies der Wind es wieder aus. Er stand auf und trat gegen den Haufen. Von den Zweigen über ihm ergoss sich eine Ladung Schnee auf seinen Kopf.
    «Na dann, Jackson. Ziehen wir wohl mal weiter.»
    Während er durch den Wald ritt, erinnerte er sich an Geschichten, in denen Männer ihre Pferde getötet und aufgeschnitten hatten, um sich in ihrer Bauchhöhle warm zu halten. «Keine Bange, Jackson. So schlimm sind wir noch nicht dran.»
    Doch die Lage war ernst, das sah er. Er hatte schon viele Nächte im Freien verbracht, aber noch nie so schlecht ausgerüstet und unter solch üblen Bedingungen. Schnee füllte jede Falte seiner Hose und seines Mantels. Die Mähne des Pferdes war mit Eis überkrustet. Er hatte keine Wahl – und ritt weiter, ohne zu wissen, wohin.

    Als er den Rand eines – soweit er es erkennen konnte – zugefrorenen Sees erreichte, eines Sees, von dem er nie zuvor etwas gesehen oder gehört hatte, überfiel ihn Furcht. Er stieg ab und blieb neben dem Pferd an dem verschneiten Ufer stehen.
    Verdammt. Verdammt. Er trat gegen den Boden. Das Pferd blinzelte träge, war zu erschöpft, um zurückzuweichen.
    Du hast dich verirrt.
    Die Stimme ließ Garrett zusammenfahren – ein gespenstisches Wispern in seinem Ohr. Über die Schulter hinweg sah er das Mädchen gleich einem Geist im Schnee stehen. Erzürnt über seine Schreckhaftigkeit schrie er: Was willst du?
    Du bist vom Weg abgekommen, sagte sie, und wieder klang ihre Stimme gedämpft und zugleich näher bei ihm, als das Mädchen selbst es war.
    Nein, bin ich nicht.
    Doch beide wussten, dass er log.
    Du findest nicht nach Hause, sagte sie.
    Nein, verdammt noch mal. Aber ich wüsste nicht, was du daran ändern könntest.
    Das Mädchen drehte sich um und lief los.
    Folge mir, sagte sie.
    Was?
    Ich zeige dir den Weg.
    Er hätte gern gebrüllt, um sich getreten, sich gegen diese absurde Wendung zur Wehr gesetzt, doch stattdessen ging er, das Pferd am Zügel, dem Mädchen nach. Ohne sich umzusehen, schritt sie rasch und mühelos durch den Schnee. Zuweilen verlor er sie aus den Augen, doch dann tauchte sie wieder auf, wartete neben einer Birke oder zwischen ein paar Fichten.
    Ich wollte nicht, dass das passiert, sagte sie. Ich war zwar wütend, aber ich wollte nicht, dass du vom Weg abkommst.
    Na, das ist ja wohl klar. Wieso sollte das deine Schuld sein?
    Das Mädchen hob die Schultern und setzte sich erneut in Bewegung. Der Schneefall ließ nach, über ihren Köpfen zeigten sich blaue Löcher am Himmel. Als die Berge wieder sichtbar wurden, waren sie nicht dort, wo Garrett sie vermutet hätte. Was wäre aus ihm geworden, dachte er, wenn sie ihm nicht nachgegangen wäre?
    Die Schritte des Mädchens führten zwischen kahlen Birken hindurch; hier und da schlang sie im Vorbeigehen

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